Belästigungen 8/2019: Vom Christenmensch und der Evolution (und vom Chorknaben und dem wabbelnden Zellhaufen)

Aus der christlichen Kirche schlau zu werden, ist mir noch nie leichtgefallen. Zum Beispiel das mit dem Sex: Da sind die Christen gegenüber ihren Konkurrenten vom Evolutionslager eigentlich doch klar im Vorteil. Die nämlich meinen (ich kolportiere das mal nicht gänzlich unironisch): Weil die sexuelle Vereinigung zweier Lebewesen aus Sicht der Natur in erster Linie der Fortpflanzung dient, hat die Natur, damit es zu einer ordnungsgemäßen Fortpflanzung kommt und das Lebensgewese nicht gleich wieder aufhört, den Orgasmus als Anreiz geschaffen … Nein, so geht das nicht. Da wäre ja via Natur eine Art Gott im Spiel, der eine Absicht verfolgt. Und eine übergeordnete Absicht oder ein Ziel kann es beim „survival of the fittest“ der Evolution nicht geben.

Also anders: Durch den allüberall waltenden Zufall hat sich im Verlauf der Evolutionsgeschichte eines Tages vor Trillionen Äonen eine Mutation ergeben, die zur Folge hatte, daß einem namenlosen Exemplar der Vorläuferspezies sämtlicher heutzutage fröhlich kopulierenden Lebewesen (also wahrscheinlich einem wabbelnden Zellhaufen) plötzlich ganz zweierlei wurde, wenn es ein anderes Exemplar seiner Gattung berührte. Dieses mulmig-wohlige Gefühl gab es seiner Brut weiter, die sich damit erquickte, während den nicht mutierten Artgenossen vor lauter autistischer Zellteilerei bald fad wurde.

Zack! der nächste Zufall: Einem der Zellhaufen wuchs eine Art Drüse aus dem wabbelnden Leib, während ein anderer ebenso plötzlich und zufällig eine Öffnung entwickelte, in der die Zellteilung ohne Störung von außen verlaufen konnte, wenn man zuvor Drüse und Öffnung zusammenflanschte, was man wegen dem lustigen Kribbelgefühl sowieso gerne und so oft wie möglich tat.

Und weil dieser Urqualle (man verzeihe den unwissenschaftlichen Terminus) und ihren Nachfahren von da an die Fortpflanzung einen Riesenspaß machte, starben die anderen, die keinen Bock auf Gepimper hatten und sich weiterhin mit spaßfreiem Zellgeteile abmühten, langsam aus. Die nunmehr konkurrenz- und hemmungslosen Paarer wiederum erfanden immer neue Wege, die Sache noch spannender zu machen – von der Bienendressur (zwecks Bestäubung) über Mückentanz und Vogelgebalze bis hin zur Kosmetik- und Autoindustrie, die es dem Menschen gestattet, seine Geschlechtsorgane sozusagen prothetisch zu erweitern.

Da kann der Gottesmann doch nur lachen, weil die Sache gar so unwahrscheinlich und unglaubwürdig ist und sein Schöpfer es ihm viel leichter macht, den Hergang zu erläutern: Der (Schöpfer) empfahl Adam und Eva ganz einfach, fruchtbar zu sein und sich zu mehren, und falls einer der beiden fragte, wozu das gut sein sollte, sprach Gott (kichernd): „Das wirst du dann schon spüren, Dummerchen!“

Wenn es den Kirchenleuten so elegant gelingen könnte, die Anwesenheit von Sex und Orgasmus und allem, was dazugehört, in der Welt zu erklären, muß man sich doch fragen, wieso sie es selber nicht schaffen, einigermaßen würdevoll damit zurechtzukommen. Da patscht jeder im Dunkeln irgendwo herum, wo er nicht herumpatschen soll, bringt kein klärendes Wort aus der Kehle, steckt den Kopf in den Arsch und die Finger in einen Chorknaben hinein oder sonst wohin. Da wird der Primat der Fortpflanzung beschworen, wo es nur geht, obwohl zumindest der katholische Zweig des Vereins jahrhundertelang der reinste Pfuhl dessen war, was Gott unter selbigem Primat angeblich verpönt. Da herrscht, kurz gesagt, eine dermaßene Verklemmung, Druckserei, Zwanghaftigkeit, Sublimation, Verlogenheit und, na ja, Gotteslästerung, daß einem beim bloßen Hörensagen der Magen in die Mandeln steigt und aufrechte Gläubige die Inquistion herbeipfeifen müßten, wenn ihnen nicht längst die Zungen abgetrocknet wären angesichts solchen Trauerspiels. Ein Gewölle aus ungesundem Herumgemache und kollektivem Triebstau, das/der sich auf peinlichste, erniedrigendste und demütigendste Weise entlädt und Generationen von Opfern zurückläßt, die lieber wieder fröhlich kribbelnde Zellhaufen wären als das, was der amtschristliche Modus operandi auf sexuellem Gebiet aus ihnen gemacht hat.

Und warum? Weil die Christenmenschen insgeheim an die Evolution glauben und fürchten, daß das mit den Drüsen und Öffnungen und dem Ineinanderflanschen vielleicht ein Irrtum gewesen sein könnte, den Gott am Jüngsten Tag bestrafen wird?

Kann sein, ja. Vielleicht andererseits erleben wir mit diesem schrecklichen Theater einen weiteren Schritt – oder vielmehr eine langsam anrollende Welle – der Evolution, die in diesem Fall dafür sorgen wird (oder sagen wir‘s korrekter: dazu führen wird, ohne es zu planen oder zu bezwecken), daß an einen Gott, der einerseits Lust und „Sünde“ in die Welt setzt und seine Schergen mit deren strafloser Verwirklichung beauftragt, andererseits aber die Nase rümpft und die Peitsche zückt, wenn der Mensch frohgemut aufrichtig drauflosmoppelt und sich nicht darum schert, ob dabei ein brauchbarer oder überhaupt ein Nachwuchs herauskommt, – daß an einen solchen Gott keiner mehr glauben mag, der nicht suizidal-masochistische Selbststrangulationsphantasien hegt.

Die es ohne diesen Gott und seine Schergen aber vielleicht auch gar nicht mehr geben wird. Ja mei. Dann holen wir uns den „Gott“ durch die Hintertür zurück: schmeißen seinen angeblichen Stellvertreterhaufen samt Predigern, Mahnern und Jubelchorleitern auf den Mist und erinnern uns daran, wer uns diese Drüsen und Öffnungen beschert hat, die eine Evolution kaum je herbeibringen hätte können und die aber ganz ohne all das Gebimse ein ziemlich hübsches Kribbeln machen können.

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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