Frisch gepreßt #438: Priests „The Seduction of Kansas“

Ein Nachfrühling ohne Soundtrack ist nichts wert. Ebenso wenig wie ein Vorsommer, Frühherbst, Spätwinter und so weiter übrigens – jede dieser distinkten und signifikanten Kleinjahreszeiten braucht ihre Platte, die nur zu ihr paßt und sie am besten konkurrenzlos singulär mit Klang füllt. Damit werden zwei Effekte bezweckt: Einerseits und aktuell färbt, prägt und formt diese Platte sämtliches Geschehen sowohl in seiner Typizität (jeder Nachfrühling ist ein Nachfrühling, irgendwie sind alle gleich) als auch in seiner Einzigartigkeit (jeder Nachfrühling hat seine einzigartigen Momente, seine speziellen Personen, Ereignisse, insbesondere Gefühlsgeschehen; irgendwie ist jeder anders).

Andererseits verleiht diese Platte dem speziellen Nachfrühling ein ewiges Leben in der Erinnerung: Hört man sie nach Jahren zufällig oder gewollt wieder – und zwar egal zu welcher Kleinjahreszeit –, so ist der Nachfrühling 2019 schlagartig wieder da, als Bild und Empfindung, in sämtlichen Nerven, Adern, Sehnen; vom Kopf bis zu den Zehen ist man plötzlich wieder der Mensch, der man war, in exakt dem Stadium und Zustand von Verliebtheit, Sehnsucht, Glück, Suche, je nachdem.

Hinzu kommt, daß ein Nachfrühling gewisse Ansprüche stellt, ganz andere als etwa ein Frühherbst: eine saisonal kongeniale Mixtur aus Schärfe, Kälte, brennenden Hitzespitzen, dieses ganz besondere Konglomerat aus Sensationen unterschiedlichster Art, das einen echten Apriltag ausmacht, feuchte Kühle mit zaghaft drückendem Grün inmitten pointilistischer Farbenpracht, graues Licht und Sonnensplitter, blasse Schößlinge auf dürreduftendem Kargterrain, der Blick in die Ferne (nach vorne) noch unverstellt von explodiertem Dichtlaub, impertinentes, föhnfreies Wehen aus Nord und Ost, Ahnung und Ungeduld, zähes Erwachen … man kann sich das zusammendichten, so fein und detailliert man will, man faßt es nie ganz. Das kann nur die Musik.

Was der Laie gerne „Post-Punk“ nennt (und am besten Siouxsie & The Banshees als Referenz heranzieht), eignet sich dafür ganz gut: knallende Schnarrtrommeln, schroffe Gitarren, teilverhallt in Räumen und Architekturen aus komplex geschichteter Elektronik. Melodie und Dissonanz, in- und auseinander geboren. Wechselnde Tempi zwischen Ungestüm und Verharren, hart pochende Bässe am Boden und mittendrin eine Stimme mit einem hohen Anteil von plärrendem Blech, ekstatischer Verzweiflung und coolem Bauchtimbre, stur, wild, atmosphärisch und körperlich, souverän und schutzlos nackt zugleich. Wer sich an Katrina Ford und ihre Band Celebration und deren zweites Album „The Modern Tribe“ von 2007 erinnert, hat eine Ahnung.

Diesmal nehmen wir Katie Alice Greer und ihre Band Priests, deren famos lärmendes erstes Album vor zwei Jahren kaum jemand wahrgenommen hat. Obwohl es in diversen Bestenlisten herumstand, oder deswegen. Oder weil es drei Tage nach Donald Trumps Amtseinführung erschien, die die Band mit einem Festival im legendären Washingtoner Black Cat Club „feierte“, Motto: „A Night of Anti-Fascist Sound Resistance“. Gutes Programm für eine Band, die den Kapitalismus als Klang sieht, den man zerschlagen kann, und die das wagt und angeht (auch diesmal übrigens, vor allem im Titelsong). Da hatte die Welt aber vermeintlich Wichtigeres zu tun, vielleicht war‘s auch die falsche Jahreszeit.

Vielleicht war „Nothing Feels Natural“ (und erst recht die EPs, Kassetten, Singles zuvor) auch einfach noch zu wüst, zu radikal, selbstdestruktiv und zweieinhalbdimensional, wer weiß das schon. Diesmal paßt alles, vom Opener „Jesus‘ Son“, der sich wie ein Korkenzieher ins Ohrwurmgedächtnis bohrt und fürs Nachfrühlingsselbstgefühl exakt die treffenden Worte mit dem exakt perfekten Gleichgewicht aus Ironie und Triumph findet („I am Jesus‘ son – I sparkle like the setting sun / I am Jesus‘ son – I think I wanna hurt someone / I am Jesus‘ son – I‘m young and dumb and full of cum …“), über den Jahreszeitpunkt bis hinein in Reflexion, Selbstzweifel, Wut, klirrend atonale, nie gehörte Ewigmelodien, die kleinste Kleinigkeit. „The Seduction of Kansas“ rumpelt einem ins Leben wie eine dilettantisch-genial zusammengeschraubte Rakete, von der man meint, sie zerfällt jeden Moment in ihre Einzelteile, die aber schließlich majestätisch schimmernd schwebt am bleigrau funkelnden Firmament. Für JETZT und dann immer.

Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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