2005: like Punk never happened!

Im Januar 2005 saß ich mit Fritz Ostermayer und Thomas Meinecke zusammen und sollte öffentlich (fürs Radio) darüber diskutieren, welches Album das derzeit und vielleicht sogar für die „Zukunft“ wichtigste oder beste oder irgend so was sei. Ich weiß: eine saudumme Frage, auf die man am besten mit zugehaltenen Ohren „Lälälälälä!“ antworten sollte, aber diesmal fiel mir die Antwort ausnahmsweise leicht.

Was Fritz vorspielte, weiß ich nicht mehr. Wahrscheinlich Tocotronic oder irgend so einen Konsensscheiß. Fritz ist ein netter Mensch. Thomas setzte auf die Blood Brothers, auch irgendwie typisch: gut gemeint im Sinne von „Innovativ heißt unerträglich“, ein Haufen Krach mit Quäkstimme, as if 1993 never went away.

Ich hatte mir ein paar Tage zuvor die erste Futureheads gekauft – per Import, weil die damals immerhin noch existente, aber traditionell mut- und ahnungslose deutsche Plattenindustrie so etwas selbstverständlich nicht verkaufen wollte – und war vom ersten Takt an wie betäubt, hypnotisiert und innerlich explodiert. Es war eine dieser circa zwanzig Platten einer Biographie, die das Leben und die Welt in Stücke hauen und neu zusammensetzen, die nie mehr weggehen und nie altern. Fritz sagte dazu sicher was Nettes, ich weiß es nicht mehr; Thomas meinte, das erinnere ihn irgendwie an XTC, Wire oder Gang of Four (deren Andy Gill einen Teil davon produziert hatte). Verständlich und verzeihlich, aber auch traurig: Wie soll man sich verlieben, wenn einem die Frau seines Lebens begegnet und einen irgendwie an die junge Audrey Hepburn erinnert?

Mir war das egal. Ich bin kein Missionar, sondern Schatzsucher, und ich hatte meinen Schatz gefunden. Die folgenden Wochen lief das Futureheads-Album bei mir nonstop, bis Redaktionskollegen, Nachbarn und Kneipengäste, ob sie wollten oder nicht, noch den letzten Takt von „Robot“ mitsingen konnten. Nicht ganz nonstop, okay; es gab da noch zwei Tracks von der „NME Cool List 2004“, die sich regelmäßig dazwischenmogelten: „Strasbourg“ von den Rakes und die Liveversion von „I Predict A Riot“.

Es war eine aufregende Zeit, alles wirkte neu, und Popmusik war plötzlich wieder wichtig, spannend, geheimnisvoll, eine Superdroge, so ähnlich wie 2001/2002 mit The Strokes und den Libertines. Ein bißchen auch so wie 1976/77, als nacheinander Punk und New Wave die moderne Musikgeschichte in zwei Teile rissen (vorher/nachher).

Der Rest der Welt, wir erinnern uns, hielt damals noch Adam Green für einen Dichter, Green Day für Punk, Badly Drawn Boy für ein Genie und Keane für eine Rockband. Hi hi. Wenn sie nicht sowieso im käsigen Ursumpf zwischen U2, Depeche Mode, Tocotronic, Red Hot Chili Peppers, Björk und den Ärzten festgefault waren. Wie das immer so ist, wenn sich die Welt ändert: Keiner kriegt was mit, und hinterher wollen alle dabeigewesen sein.

Aber war das, was da passierte, überhaupt eine „Welle“, eine „neue“ gar? Schließlich war das zweite Libertines-Album nicht mal ein halbes Jahr alt, und als Indie-Superstars galten 2004 Franz Ferdinand, die Thomas Meinecke ganz bestimmt ebenfalls an XTC erinnerten. Wie soll man erklären, weshalb sie gegen die Futureheads plötzlich wie die Bay City Rollers wirkten? Und was ist da eigentlich passiert, überhaupt?

Arbeiten wir’s mal chronologisch ab: Nach dem Futureheads-Startschuß (Juli 2004) hatte im November 2004 die legendäre Postpunk-Band Gang of Four ihre Wiedervereinigung bekanntgegeben und ging im Januar 2005 auf Tour. Gleichzeitig markierten die Debütalben von LCD Soundsystem und The Others sozusagen die soziale Ober- und Untergrenze der „Welle“; im Februar folgte mit „Silent Alarm“ von Bloc Party der Hammerschlag, der die wenigen, die für solche Umbrüche ein Gespür (oder, weniger elitär: eine Sucht) haben, vom Hocker riß und zu neuen Menschen machte. Die anderen, die es lieber gemütlich haben, wedelten mit Hype-Klageschriften und verglichen die Band mit XTC und Gang of Four. We Are Scientists wurden Ende Februar mit ihrem zweiten Album „With Love And Squalor“ auf einmal doch relevant (weil man sie mit XTC vergleichen konnte). Im März hauten die Kaiser Chiefs „Employment“ raus, im Mai debütierten Maximo Park mit „A Certain Trigger“ und Art Brut mit „Bang Bang Rock ’n‘ Roll“, im Juni Black Wire (die einst mit einer wüsten Show samt Bühneninvasion die Kaiser Chiefs zu „I Predict A Riot“ anregten) und The Departure („Dirty Words“), deren Konzept (eine Mischung aus Chameleons, Joy Division, Echo & The Bunnymen und Suede) Editors im Juli mit „The Back Room“ ziemlich clever und erfolgreich imitierten und ausbauten; im Juli kam Clor, im August endlich „Capture/Release“ von den Rakes, im September arbeiteten Gang of Four auf „Return The Gift“ ihre Geschichte auf und setzten damit einen grandiosen Schlußpunkt. Irgendwann dazwischen schwoll der Strom der Auch-irgendwie-dabei-Bands zur Flut: The Cribs, Paddingtons, Mother & The Addicts, Unstrung, Mystery Jets, Subways, Dead 60s, Ladyfuzz, The Licking Cunts, The Long Blondes, The Violets, Hot Club de Paris, Field Music, Louis XIV, The Shivvers, Golden Virgins, Pride of the Revolution, Towers of London … Wer auch immer in diesem Jahr eine Gitarre in die Hand nahm, schien im Laufstall mit (Post-)Punk-Brei gepäppelt worden zu sein.

Was die Bands verband, von Einzelfällen abgesehen (etwa dem nordenglischen Dialekt, den Maximo Park bei den Futureheads abkupferten), war bei genauerem Hinsehen/hören: nichts, außer dem diffusen Gefühl, daß sie alle irgendwie nach 1978 klangen, jenem großen „vergessenen Jahr“ der Popgeschichte, in dem angeblich nichts und in Wirklichkeit alles gleichzeitig passierte, weil der Urknall von 1976 verhallt, die stilistische Zwangsjacke von 1977 gesprengt, der Kater verflogen, der alles überragende Thron der Sex Pistols eingerissen und sämtliche Türen und Fenster weit offen waren. Der proletarische Straßenköterrock von Sham 69 blühte fröhlich neben den avantgardistischen Ausschreitungen von Wire und Public Image Ltd., XTC erfanden mit ihren ersten beiden Alben und Singles wie „This Is Pop?“ die Popmusik dermaßen abenteuerlich überdreht neu, daß sie binnen Wochen als neue Beatles gefeiert wurden. Siouxsie & The Banshees, Joy Division, die Stranglers, Magazine, Ultravox! und andere badeten in epochaler Melancholie, Power-Pop-Bands wie Buzzcocks und Undertones stürmten die britischen Charts, The Jam wurden von einer belächelten Teenager-Retro-Kapelle zum nationalen Heiligtum, The Clash eroberten Amerika. The Fall kneteten besoffene Randale und Stegreifpoesie zusammen, The Ruts verschmolzen Funk, Reggae, Dub und Punk zum High-Energy-Hexenkessel, und Gang of Four taten ähnliches mit einer hochintellektuellen politischen Agenda.

Wer mochte, konnte all das (und einiges mehr) in den Leitfiguren des Frühjahrs und Sommers 2005 wiederfinden; man konnte solcherlei Vergleiche und historische Analogisierungen allerdings auch bleibenlassen und sich einfach hineinstürzen in den Sturm, der da tobte. Ein und der vielleicht wesentliche Unterschied war die Haltung zu und der Umgang mit kommerziellen Strukturen: Die „Klasse von 1978“ hatte die mental noch immer in der goldenen Epoche der mittleren 70er lebenden Führer der Musikindustrie in Angst und Verwirrung gestürzt, weil sie sich geradezu hermetisch an ihren eigenen künstlerischen Vorstellungen orientierte und größtenteils auch nicht ansatzweise bereit war, den geringsten Kompromiß mit einem eingerosteten, aber nach wie vor alles umspannenden System einzugehen, das an Bands wie die Eagles, Supertramp, Abba und Genesis gewöhnt war. Das Ergebnis waren öffentliche Streitereien und Trotzdemonstrationen, gekündigte Verträge, unabhängige Kleinstlabels und eine Lawine von Platten, die in kein Format paßten. Das Ergebnis war aber auch ein grandioses, möglicherweise triumphales Scheitern: Von ganz wenigen abgesehen, die dem System ihre Bedingungen aufzwingen konnten (oder sich wie die Boomtown Rats dessen Bedingungen unterwarfen), setzte sich langfristig keine der vielen vermeintlich hoffnungsvollen Bands durch. Oder, anders betrachtet, nur äußerst langfristig – wenn man bereit ist, die Erfolge, die Kaiser Chiefs, Bloc Party und Maximo Park 2005 feierten, als späten „Sieg“ der neuen Welle von 1978 zu interpretieren.

2005 war das ganz anders. Die Industrie hatte ihre Lektion gelernt, und die jungen Musiker wiederum hatten deren Gesetze so sehr verinnerlicht, daß sie sich ihnen gar nicht erst fügen mußten, weil sie zentraler Bestandteil ihrer künstlerischen „Arbeit“ waren. Auch diesmal von Ausnahmen abgesehen: „Da draußen gibt es eine Generation, die sich entrechtet und isoliert fühlt“, tönten The Others. „Diese Leute haben kein Interesse an den Dingen, die alle anderen umtreiben. Die Zukunft gehört ihnen genausowenig wie die Gegenwart. Sie haben keine andere Wahl, als die Wahrheit zu sagen und zu klingen, wie sie klingen.“ Das hörte sich hochromantisch, heroisch und ein bißchen lächerlich an, und daß man mit solchen Statements wenig Aussichten hat, die nächsten Coldplay zu werden, wußte die Band sehr genau, zumindest genauer als ihre Abziehvorbilder Sham 69. Bloc Party wußten es besser: „Rock ’n‘ Roll als künstlerische Rebellion ist absolut tot“, sagte Kele Okereke, bei dem es die Presse schon für den Ausweis bemerkenswerter Intellektualität hielt, daß er zugab, Bücher zu lesen. Wer wollte sich da noch wundern, daß die wiedervereinten Gang of Four konzeptuell trotz hohem Alter jugendlicher, renitenter, glaubwürdiger, spannender und anregender wirkten als der größte Teil der neuen Bands?

Es kam dann ja auch bald der unvermeidliche Kater. Der Wirbelsturm aus Dringlichkeit, Wut, Sehnsucht und Freiheit, der den Sommer 2005 wie eine einzige große Revolutionsparty erscheinen ließ, endete im Herbst, als die aufgescheuchte Kamarilla der Mitt-40er-Musikjournalisten beruhigt den Deckel zuklappen, die nicht verwertbaren Reste unter den Tisch kehren und zu ihrem gewohnten Müsli aus Depeche Mode, U2 und Eric Clapton zurückkehren durfte, mit ein paar neuen Trockenfrüchten drin, eben Bands wie Bloc Party (deren zweites Album intensiv nach Stadion müffelte), Kaiser Chiefs (die schnurstracks wirkten wie Slade 1975: müde, fett und ohne Glam, und sich auf ihrer ersten großen Deutschlandtour von Mumm-Ra an die Wand spielen ließen) und Maximo Park (die ihre Erfolgsformel ad nauseam wiederkäuten). Peter Doherty mit Babyshambles und in seinem Fahrwasser die Arctic Monkeys fegten die Postpunk-Mode endgültig hinweg und öffneten eine ganz andere Tür zum ewigen Mythos vermeintlicher Freiheit via Rock ’n‘ Roll.

Aus heutiger Sicht ist – auf den ersten Blick – schwer nachzuvollziehen, was da passiert ist. Das liegt wie meist an den „Leitfossilien“: Wie aufregend zum Beispiel Britpop damals ein paar Wochen oder Monate lang war, wird auch niemand verstehen, der nur das Spätwerk einst so geiler Bands wie Blur, Supergrass, Teenage Fanclub und selbst Oasis kennt. Das gilt für alle Rebellionen, ob echt oder Karneval: Sie gehen, wie Guy Debord einst feststellte, „in die Geschichte ein, und die Geschichte weist keine von ihnen ab: und die Ströme der Revolutionen fließen dorthin zurück, von wo sie gekommen sind, um wieder aufs neue zu fließen.“

Interessanter ist es rückblickend allemal, sich an die zu halten, aus denen nichts „geworden“ ist, weil sie viel zu radikal und eigensinnig waren, um sich in die Mechanismen der Kulturindustrie einpassen zu wollen oder zu können. Wer im Jahr 2015 die Debütalben der Futureheads, der Rakes und von Clor und ein paar The Others-Lieder auflegt, wird ihn sofort spüren, den Sturm, der ihn aus zehn Jahren Entfernung antobt, kann sich noch einmal umblasen lassen von dieser unfaßbaren Energie und kreativen Rücksichtslosigkeit. Und er wird hinterher mit einem wehmütigen Lächeln feststellen, daß das Schönste, das wirklich Schöne an dem alten Bastard Pop halt ewig und immer wieder die hochtrabenden Versprechungen sind, die er nie einhält und an die wir trotzdem glauben, immer wieder.

geschrieben im Mai 2015 für den Musikexpress

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