Man sagt uns, daß wir immer mehr vereinsamen. Zwar hetzen, rauschen, wurlen ständig Menschen an uns vorbei, aber die meisten davon sind nicht echt, sondern nur Internetgeister, die uns ein Bildchen entgegenhalten, auf dem so was steht wie „Have a good day!“ oder ähnliche Motivationsbefehle. Oder daß wir irgendwas teilen sollen, für Tier- oder Klimaschutz oder gegen Christian Lindner.
So Zeugs wuscht naturgemäß sofort wieder weg, wie ein Eichkatzfurz oder das „Töröö!“, das der im März neuerdings allgegenwärtige Sturm in den Gasofen hineinrülpst. Weil man einen guten Tag nicht „haben“ kann, weil man das Klima nicht „schützen“ und den Menschen als solchen nicht daran hindern kann, Tiere zu quälen, schon gar nicht mit Internetbildchen; und wer sich mit Christian Lindner beschäftigt, ist selber schuld, wenn er depressiv oder zum Amokläufer oder beides wird.
Und schwupp, sind die Internetgeister wieder weg. Die übrigen Menschen nimmt man ebenfalls kaum wahr. Die stehen im Laden genau vor dem Regal, wo man grad einen Käse rausholen will, blockieren den Briefmarkenautomaten, weil man diese Geräte erst nach jahrelangem Studium flüssig und fehlerfrei bedienen kann und offenbar jeder Mensch, der im Jahr 2019 eine Briefmarke kaufen will, das noch nie zuvor getan hat. Schlimmstenfalls ziehen sie hordenweise ins gerade noch so beschauliche Stadtteildorf hinein, weil das jetzt angesagt ist, werfen sich in ihre Neo-Biedermeier-Herrenreiter-Klamotte und blockieren mit herrischem Gehabe samt Gattin und Nachwuchs-LKW die Bürgersteige zwischen Leopold- und Schleißheimer Straße sowie sämtliche ausgewiesenen Pfade im Englischen Garten dermaßen vehement und effektiv, daß von dem eingangs erwähnten Vorbeirauschen nicht mehr die Rede sein kann.
Da bleibt einem nur der fluchtartige Rückzug – aber wohin? Die meisten Kneipen sind längst zu Nobel-Hangouts für selbige Spezies aufgechict, die Münchner Innenstadt eine einzige Ansammlung absurder Weltnorm-Abgabestellen für absurd teure Lumpklamotten, und die im letzten Frühling noch unversehrt vor sich hin gammelnden Restbestände einst halbwegs naturwüchsig entstandener Siedlungen samt wuchernden Brachflächen dazwischen, die haben inzwischen die Stadtprojektierer entdeckt und ihre Kran- und Baggerarmada losgeschickt, um Flora und Fauna wegzuschaufeln und ein Sammelsurium neuer, noch monströserer Unterkunftmaschinen für jene zu errichten, die den überflüssigen Reichtum der neuschwabinger Herrenreiter errödeln und sich – weil sie immerhin „in München“ hausen – selbst als Teil einer privilegierten Elite fühlen dürfen, wenn sie spät nachts dem Fernbus entsteigen und ihr einsames Quartier aufsuchen.
Es ist ein seltsames Leben in der neuen Klassen- und Ständegesellschaft, in der das späte 19. Jahrhundert fröhliche Urständ feiert und man nicht so recht weiß, ob archaische Vokabeln wie „Leben“ und „Gesellschaft“ noch angemessen wiedergeben, was sich da abspielt.
Und dann (da sind wir wieder am Anfang) stellt man plötzlich fest oder läßt sich sagen, daß man vereinsamt. Weil Leben und Gesellschaft in dem bizarren Theater des sogenannten Alltags irgendwie nicht mehr stattfinden. Da wird man mißtrauisch, und unmerklich wandelt sich das Mißtrauen zu einer diffusen Furcht vor dem und den Mitmenschen, in dem und denen man Züge einer völlig anderen, neuartigen Spezies zu erkennen meint: Sind das nicht alles Soziopathen, Narzißten, antisoziale Psychoten, potentielle Selbstmordattentäter, Aliens, schizophrene Vampire, im schlimmsten Fall Klone von Christian Lindner?
Zum „Glück“ ist die Psychologie im digitalen Zeitalter eine Volkswissenschaft wie einstmals Kräuterkunde und Handlinienleserei. Wer ein bißchen im Internet herumwühlt, hat sich schnell einen Katalog einschlägiger Symptome anstudiert und weiß mit einem Blick bescheid: Dieser Kerl im 2.000-Euro-Mäntelchen, der gerade an der Basic-Kasse einen endlos komplizierten Handy-Bezahlvorgang durchführt, während dreißig Leute warten – trägt der nicht das Kinn ein bißchen hoch, Schultern und Kreuz etwas zu stramm? Glotzt der Mann am Nebentisch im Biergarten nicht etwas zu ausgeglichen, selbstsicher und arrogant in die Welt? Hat mich der Typ in der SUV-Panzerkarre an der Ampel nicht mit etwas zu nervös flackerndem Blick betrachtet? Was macht das Modepüppchen da drüben an der Bar mit ihrer rechten Hand? Welche Ursache hat der seltsame Hautausschlag, an dem XY seit Wochen leidet? Wieso faltet das Dating-Date beim Date-Frühstück das Butterpapier so eigenartig zusammen, während sie von ihrem Praktikum als Dingsbums-Controlling-Irgendwas berichtet, und wieso sagt sie dieses eine Wort immer so seltsam? Fragt und redet diese Dame nicht etwas viel? Wieso zupft sich der Mann beim Vorstellungsgespräch ständig am linken Ohr? Wieso sehen die Männer, mit denen YZ zusammenzieht, immer gleich aus, und warum enden die Beziehungen immer nach zwei Wochen immer auf die gleiche Weise?
So analysiert, diagnostiziert und kategorisiert man eifrig vor sich hin, bis endlich feststeht: Die sind alle irre! Denen muß man so weit wie möglich aus dem Weg gehen! Bis man eines Tages in den Spiegel schaut, auch dort ein verhaltensgestörtes Monster erblickt (womöglich das schlimmste von allen) und sich gänzlich ins virtuelle Spektakel zurückzieht, um sich vor der Welt, die Welt vor sich und sich vor sich selbst zu schützen.
Es könnte auch andersrum sein. Es könnte sein, daß wir nicht deswegen vereinsamen, weil die Welt vor irren, wirren und bedrohlichen Kreaturen nur so wimmelt und man einen entfesselten Kapitalismus und Schreckfiguren wie Christian Lindner braucht, um zu verhindern, daß der ganze Laden katastrophisch implodiert. Sondern umgekehrt. Aber wer mag das Risiko eingehen, diesen Gedanken mal versuchsweise praktisch umzusetzen?
Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN und liegt in fünf Bänden als Buch vor.