Belästigungen 25/2018: Evolution 2.0: vom Gebrabbel zum Chatkommentar (und was daran gut sein könnte)

Die Evolution vollzieht sich manchmal unbemerkt, und nicht selten werden ihre Erfolge verleugnet, abgestritten, in Frage gestellt oder lächerlich gemacht. Zum Beispiel die Geschichte mit der schriftlichen elektronischen Kommunikation: Von der heißt es, sie sei schuld an so ziemlich jedem Übel, mit dem wir uns heutzutage herumschlagen müssen, von der Filterblase bis zur Fake News, vom Netzjunkie bis zum Genderwahn, vom Haßsprech bis zum Pegida-Aufmarsch. Zur Klärung von Mißverständnissen, Meinungsverschiedenheiten und diversen anderen Problemen sei das persönliche Gespräch daher in jedem Falle vorzuziehen, am besten unter vier Augen, höflich und besonnen.

Welch ein Unsinn das ist, weiß jeder, der schon mal zur Schule gegangen ist und vom Lehrer oder Direktor zu einem persönlichen Gespräch bestellt wurde, unter vier Augen, höflich und besonnen: Da wurde man bestenfalls vergattert, runter- und niedergemacht, diszipliniert und mußte die Klappe halten, und selbst wenn man das nicht gemußt hätte, wäre einem die entscheidende, geistreiche Antwort sowieso erst beim nächtlichen Sinnieren oder am nächsten Morgen beim Aufwachen eingefallen.

Als jemand, der schon seine allerallererste spätkindliche Kurzbeziehung auf schriftlichem Wege (mit einem Briefchen im selbstgebastelten Couvert) einleitete, weiß ich ziemlich genau, wovon ich spreche – wäre das Techtelmechtel in diesem Modus fortgeführt worden, hätte es vielleicht länger gehalten als die paar Wochen, in denen es in unbedarften, unbeholfenen Plapperplauderversuchen kenterte und unterging.

So geht das immer, den ganzen Tag, das ganze Leben lang: Menschen reden ineinander hinein, aneinander vorbei, umeinander herum, und jeder einzelne davon meint, bei der wahllosen Ausstoßung von Geräuschfetzen handle es sich um Kommunikation. Hingegen prangert der Chor der Kulturpessimisten am Äußern von Gedanken in sozialen Netzwerken vor allem deren Unbedachtheit und Spontaneität an. Jeder Tipp- oder Grammatikfehler sei ein deutliches Zeichen, daß sich da mal wieder jemand „was gedacht“, aber nicht die Mühe gemacht habe, es so zu ordnen, daß es einer Öffentlichkeit zumutbar sei. So werde alles mißverstanden, und am Ende komme es zu Umsturz, Pogrom und Bürgerkrieg.

Man könnte darauf hinweisen, daß ein ganzes Drittes Reich und zwei Weltkriege ohne Facebook und Whatsapp – und vielleicht nur so – zustandekamen. Daß sich der Wirtschaftsfaschismus vor allem deswegen so unauslöschlich in den Köpfen der mittlerweile dritten oder vierten Generation von tumben Ameisenmenschen einnisten und festschrauben konnte, weil seine Ideologie hauptsächlich in TV-Plapperrunden und nur äußerst selten im schriftlichen Austausch verbreitet wurde (und wenn, dann in Zeitungskommentaren, die ähnlich irr dahergefaselt waren wie das Zeug, das Merz & Co. in Kameras skandierten). Daß das mündliche Gespräch, mag es noch so geistreich sein, weder Fußnoten noch Lektorat zuläßt und deshalb nur mit größter Vorsicht zitiert werden sollte, weil sich im Zweifelsfall selbst der geschickteste Redner und Argumentator Minuten nach seiner Äußerung nicht mehr an deren Wortlaut erinnern kann. Wer ein bißchen in Aufzeichnungen klassischer Bundestagsdebatten herumblättert, wird feststellen, daß die faschistische Schmähung von Parlamenten als „Quatschbuden“ an der Realität peinlicherweise nicht weit vorbeigeht – wobei zu bedenken ist, dass bereits die Mitschriften redigiert und geschönt sind.

In Wirklichkeit ist das persönliche Gespräch, das Menschen deswegen immer suchen, wenn ihnen die Argumente ausgehen oder sie nicht in der Lage sind, sie überzeugend zu formulieren, vor allem Machtmittel und Waffe. Der Boß, dem das Humankapital zu aufmüpfig wird, bittet es einzeln ins Chefbüro. Der Mann, dem das Weib intellektuell über die Hutschnur wächst, haut auf den Tisch und „stellt“ etwas „klar“. Umgekehrt geht im Brüllchoral der noch so gutmeinenden Masse jegliche Logik, Evidenz und Dialektik umstandslos unter.
Teilnehmer von Meditationskursen, Schweigeexerzitien und ähnlichen Unternehmungen melden erstaunliche Erfahrungen: Wer absichtlich über längere Zeit darauf verzichtet, sich mündlich zu äußern, fängt bereits nach wenigen Tagen an, eine Tätigkeit auszuüben, die dem modernen Menschen für gewöhnlich völlig fremd ist: denken. Nach einigen Wochen ohne Gebrabbel beginnen sich die Gedanken sogar zu ordnen. Gleichzeitig wächst der Drang, sich lautstark mitzuteilen, bis er kaum noch zu unterdrücken ist. Dann aber läßt er ziemlich rapide nach und verschwindet schließlich ganz, während andererseits Dinge, die vordem durch den Kopf schwirrten und zuckten wie Stroh in einer Windhose, deutlich, klar und folgerichtig in Erscheinung treten.

Wer sich fragt, wie in früheren Zeiten, als Kommunikation größtenteils schriftlich ablief, so etwas wie eine Literatur entstehen konnte, während heute eine Armada von Verlagen halbjährlich Hekatomben von windigem Müllgeseier in Buchdeckel binden und kurz darauf zu Tapetengrundierung zermanschen läßt, wer sich fragt, wieso die „Autoren“ dieser Quatschklötze neunzig Prozent ihrer Lebens- und fast hundert Prozent ihrer sogenannten Arbeitszeit in Talkshows, Podiumsdiskussionen und Interviews zubringen, dem könnte die Erkenntnis dämmern, daß der Umstieg vom Plaudern zum Chatkommentar tatsächlich ein Fortschritt sein dürfte – obwohl oder gerade weil der größte Teil auch dieser Äußerungsformen sinnloser Unfug ist. Immerhin kann man das notfalls nachlesen, nachweisen und dann aufgrund von Gründen vorsätzlich löschen.

Der Winter ist eine gute Zeit, sich zu besinnen. Vielleicht wäre es förderlich, diesen Winter mal dafür zu nutzen, den Mund zu halten, Leuten, die den Mund nicht halten können, aus dem Weg zu gehen und statt dessen alles, was uns in den Sinn kommt, so lange zu bebrüten, bis daraus ein Gedanke entschlüpft, der einen Facebook-Kommentar wert ist. Wer weiß, wie viele sinnlose Debatten wir uns dann im kommenden Sommer sparen können, um selbigen mit viel schöneren Dingen zu füllen.

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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