Frisch gepreßt #429: itoldyouiwouldeatyou „Oh Dearism“

Da drüben an der Ecke steht der stinkige alte Kulturkonservativist und erzählt mal wieder jedem, der vorbeikommt und Ohren hat, daß in der Pop- und sowieso der Rockmusik alles längst gesagt und vorbei und mehr als imitierende Repetition schon deswegen nicht mehr möglich ist, weil der Zahl der – eben – Möglichkeiten von der Natur weite, aber unüberwindliche Grenzen gesetzt sind. Ist ja auch gut so, sagt sein Faulpelz von Assistent, der seit dreißig Jahren jedes Lebenszeichen seiner damals bevorzugten Indie-, Alternative- und Sonstwas-Helden chronistenpflichtig verzeichnet und vermerkt und alles andere höchstens epigonal einsortieren bzw. ausblenden kann oder mag. Denn, sagt er, über manch eine „Entwicklung“ hüllen sich völlig zu Recht filternde Schleier des Vergessens.

Da immerhin sind wir uns einig. Emo zum Beispiel, kann sich jemand erinnern? Eine ganze Welle von Buben in knielangen Hosen, die aussahen wie karikierte Heilige in Mangaversionen biblischer Tragödien und sich ein Universum von Melodie, Stringenz und poetischer Verdichtung entfernt Lunge und Seele aus dem dürren Leib krähten, um der Welt mitzuteilen, daß ihr Mädel böse und weg und mit jemand anderem zusammen ist. Klar, die Erinnerung ist ungerecht, aber im wesentlichen war‘s das doch, was uns, angefangen wahrscheinlich mit dem schönen, Äonen nicht und von niemandem mehr gehörten Album „Dark Days Coming“ von 3, diese ganze Genregeneration hinterlassen hat. Liegt im Giftkeller, sicher versperrt mit der beruhigenden Gewißheit: Auf so eine dumme Idee kommt niemand mehr oder frühestens im Jahr 2100, wenn der letzte überlebende Zeitzeuge keiner mehr ist.

Ha! Und dann kommt mal wieder der Sailer daher, der sich bekanntermaßen zuerst immer die neuen Platten anhört, die sonst keiner hören will, die aber irgendwas an seinem mutierten Interesseorgan anrühren. Zum Beispiel mit einem rätselhaft schönen Cover und einem Titel wie „Oh Dearism“, den man intuitiv-ästhetisch versteht und doch nicht begreift – schon deswegen, weil er ein Zitat ist (Adam Curtis, bitte googeln!), aus dem sich ein weites Gespinst von Gedankengängen entfaltet, die das seltene Kunststück fertigbringen, ein Leuchten ins Gehirn zu zaubern.

Und dieser Sailer kommt dann mit einer Band daher, von der man sich zufällige Zehnsekundenschnipsel anhören könnte, ohne sie wiederzuerkennen, von denen aber jeder einzelne faszinierende Assoziationen (jeweilige Gipfelhöhepunkte von Progrock, Punkrock, hymnischem Stadionpop u. v. m.) auslöst. Da muß man einfach weiterhören, alles hören, und wenn man das tut, von Anfang dieses grandiosen, grandios ausufernden Albums an bis zum letzten Ton, dann ist man durch einen Mahlstrom der Begeisterung gedreht ein neuer Mensch geworden. Es ist im Grunde, zumindest per Behauptung, tatsächlich Emo, was diese junge Band aus London veranstaltet, aber es ist erstens so reich an Ästen, die in alle Richtungen wachsen, daß der Begriff ins Leere fällt. Es ist zweitens so gut, so unfaßbar schön und gut, daß Begriffe sowieso nicht hinreichen. Es ist drittens so gewaltig, ein solcher Planet von Kleinigkeiten, Details, Melodien, Rhythmen, Tempi, Gefühlen, Bildern, von denen nicht das winzigste fehl am Platz oder störend wirkt, daß man sich beim Hören derart biedere Gedanken gar nicht machen kann.

Okay, auch Joey Ashworth, Sänger und irgendwie Kopf der Band, weiß, was Emo soll, aber selbst eine Zeile wie „I was better when I was a baby / I only cried when I was tired or hungry“ (aus der unbeschreiblich schönen Single „Young Americans“) klingt aus seinem Mund nicht wehleidig, sondern poetisch, und das ist sie ja genau betrachtet auch. Über was Ashworth schreit, weint, die meiste Zeit aber singt, ist mehr mehr mehr, politisch, soziologisch, psychologisch im besten Sinne „progressiv“, anrührend, mitreißend, gehirnfunkend, geistreich, nachvollziehbar, anregend, ein Kosmos der Ideen und Gedanken, die andere akademisch in Leder binden ließen, die er aber per Emotion direkt ins Herz schießt. Und dazu: Melodien! Melodien! Songs! traumhafte Harmonien! Wut, Liebe, Begeisterung!

Wenn es je eine Platte gab, die den Schreiber dieser Zeilen beim Hören nicht nur mit ihrer Schönheit umgerissen, sondern zugleich klüger gemacht hat, in der er versunken ist wie in einem Ozean purer Empfindung, dann ist es diese. Wenn es je eine gab, die er dem Kulturkonservativisten und seinem hartleibigen Assi nicht nur ans Herz legen, sondern am liebsten per Rezept verordnen möchte – und dem Rest der Welt dazu – dann ist es ebenfalls: diese. Heureka Halleluja.

Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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