Belästigungen 22/2018: Vom Borderline-Narzißmus unserer elektrischen Lebensgefährten

Der Herbst, vor allem der späte (in dem man selbst in Zeiten der Erderwärmung nicht mehr jeden Tag in die Isar hüpfen kann), ist eine seltsame Zeit. Da kommen Sachen zurück, an die man längst oder überhaupt keinen Gedanken mehr verschwendet hat. Damit meine ich (heute mal) nicht das angedrohte Comeback des möglicherweise schlimmsten Wirtschaftsfaschisten der 90er und Nuller-Jahre, der die letzte Zeit als Vorsitzender der notorischen „Atlantik-Brücke“ und Lobby-Pusher diverser Geldzentrifugen bis hin zum Weltvampir BlackRock (dessen deutschem Aufsichtsrat er vorsteht) damit zubrachte, unter anderem den deutschen Steuerzahlern dutzende Milliarden abzusaugen, und nun via Vorsitz der Größtpartei – für die er einst den Kampfbegriff „Deutsche Leitkultur“ ersann – sein soziales Vernichtungswerk zu vollenden trachtet.
Nein, für solch unerfreuliche Echo-Pömpeleien aus „Christiansen“-Zeiten hat ein empfindsamer Mensch zumindest im Herbst weder Nerv noch Zeit. Zumal er davon sowieso wenig mitkriegt, weil ihm eine vordem vollkommen unbekannte Organisation namens „PŸUR“ das zum Konsum der Nachfolgeformate selbiger Propagandaschau nötige Signal im Rahmen der offenbar staatlich beschlossenen „Volldigitalisierung“ abgeschaltet hat und der Fernseher nur noch das zeigt, was auch beim Blick in den Herbsthimmel das Bild erfüllt.

Dies berichtet dem seit Jahren fernsehabstinenten Berichterstatter die verzweifelte Freundin A, die hinzufügt, sie wisse noch nicht mal, wie man diese Organisation eigentlich ausspricht, und schon gar nicht, wer sie ermächtigt hat und wo sie überhaupt herkommt. Im Internet nachschauen könne sie nicht, weil ihr Computer, der monatelang vergeblich darauf wartete, daß sie vom Baden zurückkommt und ihn doch mal einschaltet, beim ersten solchen Versuch nur noch ein sanft blinkendes Fragezeichen zeigte und bei weiterem Nachbohren meldete, beim Wiederherstellen des ursprünglichen Aktivierungszustands sei „das Problem -69842“ aufgetreten.

Ganz anders C, der zur Verständigung mit der Außenwelt neuerdings auf sein rumpelndes, rauschendes und hin und wieder gewittrig donnerndes Festnetztelephon (ein Begriff, unter dem meine Oma etwas vollkommen anderes oder nichts verstanden hätte) zurückgreifen muß, weil das sauteure Smartphone (dito) nur noch seltsame Symbole anzeigt und gleichzeitig das Heimnetzwerk in eine Endlosschleife von gescheiterten Verbindungsaufbauarbeiten gefallen ist. Da sei wohl wenig zu machen, habe ihm ein „Experte“ mitgeteilt, weil es zur Reparatur eines nicht funktionierenden Netzwerks dringend eines funktionierenden Netzwerks bedürfe. Oder so ähnlich.

T wiederum, dessen „schwere Ausnahmefehler“ einst auch deswegen Stammtischthema waren, weil sie regelmäßig zu Wutanfällen und schließlich via Möbelzerstörung zur Scheidung und folgenden vorübergehenden Totalvereinsamung vor nicht mehr reagierenden Bildschirmen führte, trägt neuerdings eine Apple-Watch spazieren, von der niemand weiß, was er eigentlich damit anstellt. Das heißt: trug. Nämlich ließ er sich gedankenlos auf ein Softwareupdate ein, das kurz darauf vom Mutterkonzern zurückgezogen wurde, leider aber schon irreparablen Schaden angerichtet hatte, weshalb die Watch ausgetauscht werden muß, was aber dauert, weil er so viele Leidensgenossen hat.

OLED-Displays, Notch-Funktionalitäten, GUID-Partitionen, Triple-Kamera-Einheiten, WD6400BEVT-22A0RT0-Containermedien, Sealed-Sender-Signale, Waymo-Steuersysteme, Google-Doodles, WordPress-Integrationen, Selective Sync Options, Pixeldichte-Erkennung, Travel-Mug-HealthKits, RSS-Feeds, WearSpaceNoiseCancelling … alles bricht zur Zeit ständig ab oder zusammen, wird gehackt oder von innen zersetzt. Die Smart-Home-Kaffeemaschine glotzt den ganzen Tag Basketball, das Mailprogramm schickt sich selbst Drohbotschaften mit Bitcoin-Forderungen, während in sämtlichen Ecken der verkabelten Wohnung alle möglichen Geräte mit vergeblichen Neustarts und Reformatierungen beschäftigt sind. Der Radio berichtet, ein Programm zur automatischen Kündigung mißliebiger Mitarbeiter habe als ersten den Mitarbeiter automatisch entlassen, der das Programm programmiert hatte. Dann meldet auch noch das automatisierte Tageshoroskop: „Heute erkennen Sie sehr genau, was sie fühlen sich von sich, aber auch Ihren Mitmenschen erwarten.“ Gaga akut!

Und nie – das ist das verbindende Merkmal des gesamtelektronischen Nervenzusammenbruchs, in den die Welt offenbar geraten ist – nie sind die Gadgets, Teile, Apps, Units und Programme selber schuld. Immer ist ihnen angeblich irgendwas von außen zugefügt oder angetan oder angefügt oder zugetan worden, von nicht benennbaren Geistern oder uns selbst oder notfalls russischen Hackern, die uns ja schließlich auch den derzeitigen US-Präsidentendarsteller aufgehalst haben.

Das wirft einen Verdacht auf, den (ungefragt per Spam) ein „Doktor der Philosophie und Life Coach“ verstärkt: „Der Narzißt“, berichtet er, „glaubt mit schlechtem Zugang zu seinem Selbst seine Gefühle immer von außen verursacht und empfindet dafür folglich auch keine Verantwortung“. Das kennt fast jeder aus Zeiten der Schwerstpubertät, und daß gleichzeitig das Festplattendienstprogramm meldet, es könne eine beschädigte Partition nicht reparieren, weil es selbst Teil dieser Partition sei, unterstreicht den Verdacht. Rasche Stimmungswechsel aufgrund solcherart gestörter Selbstwahrnehmung sprechen ebenso für das zusätzliche Vorliegen einer Borderline-Persönlichkeitsstörung wie suizidale Handlungen, Selbstverletzungsverhalten, chronische Gefühle von Leere (zum Beispiel nach der Löschung einer Festplatte) und zwanghafte Versuche, ein Verlassenwerden zu vermeiden (wer schon mal sechzehn Stunden vor einem zickenden Laptop saß, weiß, was ich meine).

Warum es gerade im Herbst vermehrt zu so was kommt? Wir können es nur vermuten oder Analogien zum eigenen Weltschmerz unter trüben Himmeln ziehen. Die Elektropsychologie ist ein Gebiet, das noch wenig erforscht wird. Der Freistaat Bayern zum Beispiel pumpt zwar 20 Millionen Euro in den Ausbau eines „Zentrums für künstliche Intelligenz“, das aber vorrangig BMW beim Bauen menschenloser Autos helfen und über einen „Neurobiotik-Simulator“ das Hirnmodell einer Maus nachbilden soll.

Allerdings: auch das könnte eine Gewichtung sein, an der kein organisches Lebewesen beteiligt war, sondern nur ein schwermütiger Algorithmus. Der möglicherweise auch den eingangs erwähnten Merz wieder in die Welt gepufft und sich anschließend vor Gram selbst gelöscht hat.

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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