Migration, ließ der Bundesminister des Inneren und ehemalige bayerische Ministerpräsident neulich verlauten, sei „die Mutter aller politischen Probleme“. Bei all dem garstigen bis vollkommen hirnrissigen Sprechschaum, der aus amtierenden und ehemaligen Ministerpräsidenten für gewöhnlich so herausfurzt, ist es durchaus erfreulich, mal eine Aussage kolportiert zu bekommen, die ohne Abstriche durch und durch wahr ist.
Tatsächlich gäbe es ohne Migration keinerlei politische Probleme. Es gäbe noch nicht mal eine Politik, wenn man nicht das alltägliche Gesummsel, Gebrummsel, Gezeter und Gerausche der Flora und Fauna als solche interpretieren möchte. Bayern (zum Beispiel) wäre eine wunderschöne, herrlich florierende und faunierende Landschaft, vollkommen frei von Neophyten wie dem Homo sapiens, weil es eine nennenswerte Bevölkerung an Affen, die sich durch fortlaufende Hirnschrumpfung zu Ministerpräsidenten und potentiellen CSU-Wählern evolvieren hätten können, hier nie gab.
Aber selbst wenn wir die ersten paar Äonen menschlicher Migration und Wirtschaftsflüchterei außer acht lassen und uns nur den letzten drei Jahrtausenden zuwenden, bleibt die Aussage im Grunde richtig: So gut wie jedes politische Problem ging und geht letztlich darauf zurück, daß buchstäblich unendlich viele Wellen von Zuwanderung über den Erdball hinweggeschwappt sind. Ich habe an dieser Stelle vor längerer Zeit schon mal darauf hingewiesen, daß mit ziemlicher Sicherheit nicht ein einziger heutiger Bewohner der bayerischen Gefilde von sich behaupten kann, vor dreitausend Jahren habe ein Urvater seiner Sippe ziemlich genau da gelebt, wo er heute in sein Smartphone starrt.
Andererseits könnte man einwenden, daß möglicherweise auch die Ureinwohner unserer Lande (von denen wir nicht viel wissen) irgendwann auf die Idee gekommen wären, eine CSU zu gründen. Und daß so gut wie jedes politische Problem – Überbevölkerung, Krieg, Autowahn, Naturzerstörung, Armut, Hunger, Reichtum, Ausbeutung usw. usf. – auf eine einzige Ursache zurückgeht: auf die menschliche Fähigkeit zu Neid, Gier, Haß und ihre infernalische moderne Ausgeburt, den Kapitalismus.
Ist der etwa auch eine Folge der Migration? Eher nicht. Eher ist es umgekehrt so, daß praktisch jede Zu- und Auswanderung auf dem gesamten Planeten (und darüber hinaus) der letzten vier- bis fünfhundert Jahre eine ziemlich direkte Folge dessen war und ist, was dieser ungeheure Prozeß von Wachstum auf der einen und Vernichtung auf der anderen Seite mit sich gebracht und „gefordert“ hat.
Werfen wir als zufällig herausgepicktes Beispiel einen Blick zurück in anscheinend annähernd paradiesische Zeiten: das Jahr 1970. Damals lebten auf der Erde nicht ganz 3,7 Milliarden Menschen, davon 2,1 Prozent in den beiden Ländern, die das Wort „deutsch“ im Namen führten, und 0,3 Prozent in Bayern. Unter den 77 Millionen Menschen waren etwa 2,5 Millionen „echte“ Ausländer, also 3,25 Prozent. Es gab zwar im Bundesrat einen „Ausschuß für Flüchtlingsfragen“, der sich mit denen jedoch so gut wie nicht befaßte. In den meisten von Unionsparteien regierten Bundesländern saßen Abgeordnete der NPD (die meisten übrigens in Bayern), dennoch galt Migration nicht mal unter Nazis als wesentliches politisches Problem – die wollten in erster Linie ihr Großdeutschland samt Ostgebieten zurück und waren sich darin mit einem Großteil von CDU, CSU und anderen Parteien einig.
Selbst in den einschlägigen Lexika aus jener Zeit fehlt der Begriff „Migration“. Flüchtlinge hingegen waren gut bekannt: Rund zwanzig Millionen davon waren in den 25 Jahren zuvor nach Deutschland eingewandert; mithin war ein gutes Drittel der Bevölkerung „fremd“. Ein politisches Problem wollte darin aber kaum jemand sehen. Politische Diskussionen und Auseinandersetzungen drehten sich vielmehr fast durchweg um den weiten Themenbereich Emanzipation und Befreiung, individuell wie kollektiv. Man feierte Revolutionäre in fernen Ländern, gründete alle möglichen Bündnisse, Gruppen und Ausschüsse, stritt über den besten Weg zur Abschaffung von Ausbeutung, Unterdrückung, Manipulation, Konformität und Verblödung, stellte die Privilegien alter und neuer Eliten in Frage, streikte an Schulen, Universitäten und in Betrieben für Mitbestimmung und Teilhabe und schrieb in politische Lehrbücher (nicht nur) für Jugendliche Sätze wie diesen hinein: „Unsere Gesellschaft ist noch nicht vollkommen demokratisiert. In weiten Bereichen haben sich noch die alten autoritären Strukturen erhalten. Der gleiche Bürger, der bei der Wahl (…) seine Stimme abgibt und auch selbst Kandidaturen anstreben kann, ist in seinem Berufsbereich noch häufig ein Untertan, abhängig von den Entscheidungen ihm fremder und nicht durchschaubarer Führungsorgane, die er nicht gewählt hat und die ihm keine Rechenschaft schuldig sind. Die Demokratie kann nicht voll funktionieren, solange in der Wirtschaft praktisch eine Diktatur (…) herrscht.“
Freilich gab es („noch“), besonders in Bayern, Dumpfbürger, die am Stammtisch herumdimpfelten und statt individueller Freiheit (womöglich sexueller! pfui!) lieber ihren Kini oder wahlweise Führer wiederhaben wollten. Die galten aber als rückständig, ewiggestrig und hoffnungslos. Ihr stures Beharren auf Befehlsstrukturen und einer hierarchischen Zwangsgesellschaft führten Soziologen darauf zurück, daß sie Angst um ihr Geld und anderes hatten, von dem sie selber wußten, daß es ihnen eigentlich nicht zustand.
Heute: leben in Deutschland nicht mehr 2,1, sondern 1,1 Prozent der Weltbevölkerung, in Bayern nicht mehr 0,3, sondern 0,2 Prozent. Die Gesamtzahl der Ausländer und Flüchtlinge beträgt nicht mehr 2,5, sondern 10,6 Millionen. In den Länderparlamenten sitzt eine neue Nazipartei, vor allem aber hat sich alles andere so gründlich verändert, daß das Land nicht wiederzuerkennen ist: Vom Vorschüler bis zum Pflegerentner ist jeder einzelne komplett in ein psychosoziales Zwangssystem eingeordnet, das auf absolutem Wettbewerb beruht. Schulen und Universitäten sind von Laboren kritischen Denkens zu Drillanstalten für marktkonformes Humankapital verkommen. Die Privilegien der alten und neuen Eliten, deren Macht und Reichtum explosionsartig wachsen, stellt niemand mehr in Frage. An die Stelle der selbstbewußten Arbeiterklasse ist eine entwurzelte, mobilisierte, total unterworfene Ameisenklasse getreten, die das, was ihr mit Zwang nie jemand zufügen konnte, freiwillig und eifrig sich selbst zufügt. Man schuftet für den Markt, notfalls ohne Bezahlung, leidet Depressionen, wenn man das nicht darf, und verbringt den Rest seiner wachen Lebenszeit damit, durch Autofenster und in Smartphones zu starren und sich mit sinnlosem Klimbim zu zerstreuen.
Man zelebriert die Spießigkeit des Biedermeier, deformiert den eigenen Körper zur stahlfitten Kampfmaschine, stirbt millionenfach an Streß und den Bgleiterscheinungen des Autoterrors. Befreiung ist nicht mehr gefragt – wovon auch, wo doch der gesamte Begriff „Freiheit“ komplett umdefiniert wurde und heute nur noch stumpfes Konsumieren bedeutet?
Und was ist die „Mutter aller Probleme“? Eine Migration, die dieses System selbst erzwungen hat und weiterhin erzwingt, die aber im Vergleich zu damals kaum mehr stattfindet. Selbst die, die so gut wie gar nichts mehr haben, können und dürfen, fürchten nichts so sehr wie den Verlust ihrer „Privilegien“ durch das Eindringen von Fantastilliarden terrorgieriger Fanatiker einer schrecklichen Mordreligion.
Vielleicht wäre es die beste Lösung, das Bundesministerium des Inneren einfach abzuschaffen und Leuten wie Horst Seehofer kein Mikrophon mehr hinzuhalten, in das sie ihren Schmarrn hineinplärren können. Dann könnten wir uns endlich dem wahren Problem widmen und es vielleicht sogar lösen, bevor es dafür endgültig zu spät ist.
Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.
Zitat: „Die Gesamtzahl der Ausländer und Flüchtlinge beträgt nicht mehr 22,5“, – da sollte aber „nicht mehr 2,5“ stehen, oder ?
[Kommentar kann nach wohl erfolgter Korrektur gelöscht werden, Danke]
Richtig. Danke für den Hinweis!