In der Popmusik gibt es Trends, Szenen, ganze Genres, die nie stattfinden. Zum Beispiel „Riot Grrl“ – war als Begriff vor einem breiten Vierteljahrhundert in aller Munde; wenn man sich heute zu erinnern versucht, fallen einem ein paar Namen ein, ein paar Gesichter von Pressefotos, aber hören tut man: nichts. Weil es keine Songs gibt.
Wie kommt so was zustande? Ganz einfach: In Wahrheit sind solche Sachen gar nicht in aller Munde (oder zumindest nicht in aller Ohr), sondern nur im Munde einschlägiger Trendjournalisten, die ihre Seiten und Formate füllen müssen. Dafür ist ein „Buzz“ ganz dienlich. Der entsteht, wenn fünf Promoter an einem Vormittag anrufen und zum Beispiel eine tolle neue Mädelsband unterbringen möchten – noch besser, wenn sie den Begriff gleich mitliefern. Da Trendjournalisten von Musik zuallermeist keine Ahnung haben, ist sie ihnen für gewöhnlich weitestgehend schnurz. Kann man beim Tippen mal nebenbei laufen lassen, solange sie nicht zu wild wird.
Bei Remember Sports (ehemals Sports, wegen Verwechselungsgefahr umbenannt) ist die Sache anders: Da gibt es keine Szene, keinen Trend (sieht man davon ab, daß vor zwei Wochen das neue Album von Colour Me Wednesday erschienen ist, das zu diesem paßt wie Schneeweißchen zu Rosenrot), folglich keinen Buzz oder höchstens einen sehr leisen, sehr langsamen. Aber dafür gibt es Songs, die explodieren wie Feuerwerke, sich ins Hirn drehen wie Korkenzieher, und an die man sich sofort wieder erinnert, wenn man zum Beispiel das Cover ihres letzten Albums „All Of Something“ (2015) wiedersieht oder einfach ihren Namen hört.
Ein Genre gibt es aber auch nicht. Carmen Perry, Catharine Dwyer, Jack Washburn und Benji Dossetter – bei der Gründung der Band vor sechs Jahren allesamt noch Schüler – wären auf einer Bühne mit den (leider aufgelösten, aber unsterblichen) Howler nicht gänzlich fehl, könnten sich aber auch mit einer Zeitmaschine ins Jahr 1978 zurückbeamen und bei einem beliebigen Second-Wave-Punkrock-Festival alle anderen an die Wand spielen. Oder zu den Riot Grrls von 1993. Oder ins Jahr 1979 in die Westcoast-Power-Pop-Szene (die übrigens auch nie stattgefunden hat, mit ihnen aber ohne Zweifel hätte).
Andererseits könnte eine beliebige aktuelle Stadion-Indierockband einen beliebigen ihrer Songs mit einer Portion Produktionsschmalz problemlos zur US-Top-10-Hymne aufblasen und eine Million, na ja, wir leben im Jahr 2018: eine Million Cents damit verdienen. Daß sie das selbst nicht tun, sondern auf Platte klingen, als stünde man mit ihnen im Raum (in dem auch mal ein Tamburin auf den Boden fällt), ist wunderbar, aber noch lange nicht das Beste an dieser Band, die sich (vielleicht) als einziges Zugeständnis an den Massengeschmack ein paar von den modischen Kieksern leistet, ohne die heutzutage keine Indie-Songwriterin mehr auszukommen glaubt. Das Beste nämlich sind: die Songs. Von den zwölfen hier sind mindestens zehn von der Sorte, für die andere Bands Frauen, Kinder, Kegel und notfalls ihren Schlagzeuger verkaufen würden.
Die täuschen mal an (wie der Opener „Otherwise“, der als Kinderorgelballade beginnt), gehen mal sofort los wie eine Kettensäge, sprudeln über vor umwerfenden Melodien (zum Beispiel „You Can Have Alonetime When You‘re Dead“, zum Beispiel „Temporary Tattoo“, zum Beispiel fast alle). Vor allem haben Remember Sports etwas begriffen, was heutzutage kaum noch eine Band kapiert: Um nicht etwa groß, amtlich und chartstauglich, sondern brillant, revolutionär und unfaßbar begeisternd zu sein, muß man immer ein Drittel über seinen Möglichkeiten spielen – schneller! wilder! mehr! (aber auch verletzlicher, empfindsamer, nachdenklicher, poetischer und klüger).
Das ist die Methode, die wir von den Rolling Stones (1968-72) und The Clash (1976-79) und wenig anderen kennen: Alles über den Haufen werden und zu Klump schlagen, dann beim Spielen einen Sog entwickeln, der die Scherben und Trümmer (und das Publikum und die Musiker selbst) mitreißt, zum tobenden Strom wird, der alle paar Meter über die Ufer schwappt und keinen Stein auf dem anderen läßt.
So was läßt sich nicht nachahmen, nur leben. Nennen wir es: Rock ‘n‘ Roll.
Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.