Belästigungen 13/2012: Unendlich viel Geld für unendlich mal nichts (ein zweiter Teil)

Um zu erkennen, wie absurd die ganze Diskussion ist, die sich anläßlich des „Urheberrechts“ angeblich um den „Schutz“ der „Kultur“ dreht, braucht man nur mal zuzuhören, was da so alles geplappert wird. Eine Meinung dazu hat z. B. unser ehemaliger Ministerpräsident Edmund Streber, der heutigentags als Chef des Programmbeirats der Pro Sieben Sat 1 Media AG einen ganz besonders tüchtigen „Urheber“ vertritt: „Wenn jemand ein Auto, ein Portemonnaie oder ein Handy stiehlt, wird jeder einsehen, daß dies bestraft werden muß. Warum sollte das bei einem Musikstück oder einem Film anders sein?“

Das heißt: Wenn ich auf der Straße spazierengehe und zufällig ein Auto sehe oder es vorsätzlich betrachte, muß ich demnächst damit rechnen, als Dieb verhaftet zu werden?„Ist es Zensur, daß Sie die Schuhe bezahlen müssen, die Sie im Internet gekauft haben?“ trötet der Filmregisseur Michael Verhoeven in das gleiche Horn, und ich frage wiederum zurück: Muß ich ab jetzt einen Euro beim Bäcker abgeben, wenn im Fernsehen Reklame für Semmeln gezeigt wird?

Der schwerreiche Bestsellerautor und -musiker Sven Regener wiederum labert, wenn es um Kunst geht, am liebsten von „Geschäftsmodellen“ und trifft damit unfreiwillig ins Schwarze. Möglicherweise können die Verfechter solcher „Geschäftsmodelle“ ein paar Fragen beantworten: Wenn ich mir 1978 eine LP gekauft habe, habe ich dann fürs Urheberrecht bezahlt? Wenn ich mir die gleiche Platte mit derselben Musik zehn Jahre später noch mal als CD gekauft habe, war da wieder ein Urheberrecht dabei? (Wie wollte die Musikindustrie sonst rechtfertigen, daß sie damals in den Milliarden nur so badete, die sie damit „verdiente“, ihren alten Müll in digital zusammenkastrierter Form noch mal zu veröffentlichen?) Wieder zehn Jahre später erschien die gleiche Platte erneut, diesmal „remastered“, zehn weitere Jahre später als „Deluxe Edition“ ein (mindestens) viertes Mal, und jetzt soll ich, weil ich keinen CD- und Plattenspieler mehr besitze und die „Deluxe Edition“ wegen „Kopierschutz“ auf dem Computer nicht läuft, das Album noch mal kaufen und noch mal ein Urheberrecht bezahlen für Musik, die ich bereits vierfach daheim stehen habe?

Und was kriege ich da überhaupt für eine Ware, wenn ich so einen Download „kaufe“? Ist danach ein Exemplar weniger im Lager des Verkäufers vorrätig? Muß er irgend etwas für mich herstellen, was einen finanziellen oder sonstigen Aufwand verursacht? Oder kriege ich bloß eine Magnetisierung auf meiner Festplatte, die der Lieferant theoretisch auf unendlich vielen Computern verursachen und damit ohne jegliche Leistung unendlich viel Geld verdienen könnte?

Wenn keinerlei materielles Argument dafür zu finden ist, gibt es dann ein moralisches? Muß ich zahlen, weil (z. B.) die Erben von Michael Jackson sonst Hunger leiden und man ihnen aus dynastischen Gründen als Nachfahren eines so bedeutenden Mannes nicht zumuten kann, selbst für ihren Lebensunterhalt zu sorgen?

Es gibt aber noch einen wesentlicheren Aspekt. Die Quintessenz des ganzen Geredes lautet nämlich: Wer sich was nicht leisten kann, der hat auch kein Recht darauf. Zurück in die Zeiten, als Leute meiner Klassenzugehörigkeit fünf LPs besaßen, weil das Taschengeld für mehr nun mal nicht reichte!
Wem das nicht gefällt, der wird sich an einen grundlegenden Gedanken gewöhnen müssen: Kunst ist kein Eigentum und kann es auch nicht sein. Wenn der Mensch eine Leberkässemmel braucht, muß er arbeiten gehen, dann kriegt er Geld und kann sich das Zeugs kaufen. Wem der Gott des Kapitalismus einen Berg Geld auf den Kopf oder in die Wiege scheißt, der kann so lange Leberkässemmeln mampfen, bis es ihn zerreißt.

Aber Kunst ist kein Leberkäs. Kunst kann man nicht konsumieren (zu deutsch: „genießen“) und in verdauter Form wieder herauskoten wie Leberkäs. Sie geht nicht davon weg, daß man sie konsumiert. Kunst ist ein Menschenrecht; sie gehört allen, und jeder einzelne Mensch hat dadurch, daß er ein Mensch ist, das Recht, Kunst in jeder beliebigen Menge in seinen Kopf, seine Ohren, Augen und sein Herz hineinzufüllen.

Freilich: Der Künstler muß leben können; das war noch nie leicht und wird es nie sein. Wer sich dafür entscheidet, sein Leben der Kunst zu widmen, der muß wissen, was er tut. Daß heutzutage gewisse Künste (zum Beispiel die Popmusik) ein Nebenfach der Abteilung BWL sind, ist ein historischer Irrtum. Wer darauf hereinfällt, ist genauso selber schuld wie einer, der meint, er könne von anderen Geld dafür kassieren, daß sie Luft einatmen, die er und seine Erbvorfahren schließlich vorher ausgeatmet haben.

Wie man Künstler am Leben erhält, ist eine politische Frage, die über die Jahrtausende auf vielerlei Weise beantwortet worden ist, neuerdings eben (angeblich) mit dem „Urheberrecht“, das in dieser Hinsicht eine der dümmsten, aber die typisch kapitalistische Lösung ist: Wer Glück hat, kriegt alles, die anderen haben eben Pech gehabt, und damit sie nicht rebellieren (wie es bisweilen geschieht, wenn man Menschen ihr Menschenrecht verweigert), schärft man ihnen von früher Kindheit an die Grundregel ein: Es geht nicht darum, denen, die zu viel haben, was wegzunehmen und es denen zu geben, die zu wenig haben. Sondern es geht darum, Glück zu haben und einer zu werden, der zu viel hat!

Das könnte man ändern. Geld ist nämlich genug da, um sämtliche Künstler dieser Welt zu ernähren. Man muß es nur wollen.

(**Einige Tage nach Erscheinen der Folge am 27. Juni 2012 wurde in den Medien diskutiert, daß die GEMA beschlossen hatte, ihren Anteil an den Brutto(!)eintrittseinnahmen von Clubs, Parties, Konzerten etc. von 5 auf 10 % zu erhöhen. Als Begründung wurde u. a. genannt, es gehe nicht an, daß an einer Veranstaltung der Türsteher mehr verdiene als der Urheber irgendeines möglicherweise (!) dort gespielten Songs.)

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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