Frisch gepreßt #411: Superorganism „Superorganism“

Es gibt übrigens ein neues Album von David Byrne. Das ist keine Schleichwerbung, sondern sozusagen Nebenbei-Chronistenpflicht (wobei der Chronist anmerkt, daß ihm die neuen Alben von Tracey Thorn, Camp Cope, Frigs, In Tall Buildings, Moaning, Lucius, Ernst Molden, Sarah Blasko und ganz! besonders! Lucy Dacus auch und besser gefallen als das von David Byrne).
Aber an David Byrne muß man im ausklingenden Winter manchmal denken, weil er uns beigebracht hat, daß das letztliche Hoffnungsziel der Popmusik das: Nichts ist. Der Himmel ein Ort, an dem nie etwas geschieht, das Leben eine Straße nach Nirgendwo, und am Ende bläst der Wind sowieso alles weg. Da kann man schon mal nachdenklich werden (nachdenklich wie in „aus dem Fenster glotzend, ohne zu bemerken, was man sieht“).

Aber dann passiert wieder was, und weil es hin und wieder auch schön ist, wenn total viel passiert, zieht diese Woche das Debütalbum von Superorganism sogar an Lucy Dacus vorbei in den Strafraum des Aufmerksamkeitsspielfelds (aufmerksam wie in „Bitte was? Das auch noch?“).
Ein Superorganismus (der eigentlich Supraorganismus heißen müßte, aber das führt jetzt zu weit) ist der Definition nach ein Organismus, der von sich behaupten kann: „Ich bin viele!“, also: Organismen, die zwar theoretisch (jedoch nicht lange) allein überleben können, das aber nicht tun, sondern der Welt als ein Ding mit theoretisch autonomen Organen entgegentreten. Ameisen tun das, Bienen auch. Im Reich der Wirbeltiere (wenn man exotisch-esoterische Theorien über Gaia und solche Sachen mal ausblendet) tun es höchstens Nacktmulle, Zwergmangusten und die gleichnamige Kommune aus acht Musikern zwischen 17 und 32 Jahren (also sozusagen von halb bis doppelt), von denen sieben aus Lancashire, Australien, Japan und Neuseeland kommen und neuerdings in einem Londoner Haus zusammenleben (der achte stammt aus Korea und lebt in Sydney).

Na gut. Daß die Beatles alle aus Liverpool kamen, war Zufall, und zusammengespielt haben die auch, ohne daß man sich einen Teil für längere Zeit wegdenken hätte können. Aber nicht so: „Es fängt damit an, daß wir in der Küche zusammensitzen, Musik hören und dabei über Musik, Kunst und alles mögliche reden. Dann hat einer eine Grundidee für einen Song, wir schicken die Datei hin und her und rundherum, und jeder fügt dies und das hinzu.“ Das (fast) gemeinsame Domizil sei, inklusive Covermalerei, Mix, Videos etc., „eine Art verzerrte Version von Pop-Produktionshaus“.

Und da passiert einiges, extrem einiges: Es zischt, fitzelt, blubbert, plätschert, zwitschert, rauscht, schwillt, bricht ab, hallt, knallt, pumpt, tänzelt, heult; Spuren haben Lücken, Löcher und Überschneidungen, und manchmal scheinen tausend Instrumente gleichzeitig zu spielen, für Sekunden oder wabernde, pulsierende Ewigkeiten. Wie es funktionieren kann, daß dieses Tohuwabohu (eine kontradiktorische Bezeichnung, bedeutet sie doch „wüst und leer“, was David Byrne entgegenkommt, hier aber nur halb bis doppelt trifft) irgendwie köhärent und transparent zu bleiben zumindest scheint und die Stimme von Orono Noguchi einen irgendwie tragenden Part zu spielen zumindest scheint, – das bleibt ein Mysterium.

Macht nichts; es weiß bis heute auch niemand, wovon die Östliche Zwergmanguste lebt. Superorganismen haben ihre Geheimnisse. Die „Band“ Superorganism und ihre Musik leben von Aufmerksamkeit: Hat man den Faden mal verloren, findet man ihn nicht wieder und möchte oder sollte von vorn anfangen. Um am Ende verblüfft festzustellen: ein ganzes Universum an Klängen, Tönen, Geräuschen, Ideen und (auch) Witzen paßt in ziemlich exakt 33 1/3 Minuten. Ob diese Zahl, in der Popmusik und -geschichte die vielleicht wichtigste überhaupt, ein Zufall ist? Bei Superorganism: kaum.

Eine Empfehlung: Man sollte dieses Album mindestens tausendmal hören, weil man sonst nicht alles begreift. Aber nicht jeden Tag, vielleicht nicht mal jede Woche, weil sonst der Kopf zu rattern beginnt. Dazwischen darf man sich entspannen und mit vollkommen anderer Musik durch den ausklingenden Winter (und Frühling, Sommer, Herbst) tragen lassen. Gerne von Lucy Dacus, übrigens (und das war jetzt doch Schleichwerbung).

Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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