Belästigungen 6/2018: Hurra, jetzt flattern die blauen Bänder (bis zum Pluto und zurück)!

Ist schon mal jemandem aufgefallen, wie groß die Welt im Frühling plötzlich wird? Kaum sind die Schneepolster von den Hecken, Bäumen und Zäunen weggeschmolzen, weitet sich der Blick plötzlich in unheimliche … na ja, Weiten eben und man sieht, was der Winter fürsorglich dem romantisch träumenden Auge entzogen hatte: Zeug vor allem.

Kein Krüppelgebüsch am Straßenrand mehr, das nicht durchwoben und lamettiert wäre von zerfetzten Chipstüten, Softdrinkflaschen und -dosen, Pizzakartons, Schokoriegelhüllen, Reklameprospekten, Hundescheißebeuteln, Elektrogeräteteilen, Autoreifen, halbvollen Papiertaschentuchpäckchen, Möbelfossilien, Styroporklötzen, Einweggeschirr und -besteck sowie kunstvoll demolierten ostasiatischen Klumpfahrrädern.

Ganz offensichtlich ist der Mensch – von dem Soziologen und Kulturpessimisten behaupten, er sei im einzelnen wie en gros angepaßt, fügsam und unterwürfig – das halt doch nicht, sondern ein zumindest heimlicher Rebell, der sich in unbeobachteten Momenten denkt: Ha! Wenn ihr mich schindet und ausbeutet und streßt und überhaupt und ich mich nicht wehren kann, dann werde ich‘s euch jetzt zeigen, indem ich meine leere Chipstüte einfach aus dem Autofenster schmeiße, har har!

Vielleicht hat er auch nur das mit Klima und Umwelt gründlich mißverstanden. Früher nämlich wollten die Besorgten vor allem die Umwelt schützen, und zwar indem sie Kaugummis vom Straßenpflaster kratzten und Kleingerümpel aus Wälder und Wiesen klaubten. Heute gibt es keine Umwelt mehr, die geschützt werden muß, dafür aber ein Klima. Und was bitte schön geht es das Klima an, wenn irgendwo eine leere Chipstüte herumliegt? Wird es dadurch vielleicht an Weihnachten wärmer? Na also!

Aber Moment, wir waren bei der Größe. Man sieht ja ohne Schnee in/an Zaun und Baum nicht nur schlagartig den Müll wieder, der sich durch hilfreiches Wirken von Krähe und Sturmwind in bevorzugte Winkel gesellt, sondern überhaupt alles, zumindest solange Baum und Busch sich weigern, ihr gemütliches Laub in die Gegend zu hängen. Ein Blick zur Gartenhütte: Da stehen plötzlich deren drei, asymmetrisch angeordnet; und man weiß ja, daß die anderen zwei samt den üblichen Beilagen von Schrott und Schund gar nicht im eigenen Garten stehen. Aber irgendwie tun sie das halt doch.

Seltsam, denkt man. Da wird plötzlich alles größer und zugleich in unergründlicher Weise enger. Die telephonischen Quäkdiskussionen der Nachbarin, im Sommer im Flaum der Vogelzwitscherei kaum hörbar und im Winter kältetechnisch erschwert, plärren plötzlich kilometerweit unschuldige Ohren voll, der Mittlere Ring röhrt wie ein Millionenrudel laktoseintoleranter Nilpferde nach Zwangszufuhr von tausend Tonnen Schlagrahm, und wenn dann noch der erste Sonnenstrahl ans Motorgerät ruft und sämtliche Nachbarsmänner sich ans Sägen, Fräsen und Schreddern machen, während drinnen die Frau Staubsauger, Rührgerät und Wäscheschleuder anwirft – dann gleicht auf einmal die ganze große Welt einem Kanarienvogelkäfig, den jemand in eine Düsenjägerturbine (von der ich gar nicht weiß, ob es sie gibt) hineingestellt hat.

So geht der Frühling: Alles wird größer, zugleich wird alles enger, und mittendrin steht das gepeinigte, aus dem Winterschlaf nur von den Zehen bis zum Nabel halbwegs erwachte Einzelmenschlein und fragt sich, wieso der Wal das einzige Säugetier ist, das nachweislich das Festland verlassen und ins Meer zurückgeflüchtet ist.

So weit sind solche Gedanken keinesfalls originell. Der Mensch als solcher hat nur einen Planeten, den er verwüsten kann. Als einzelner wiederum hat er lediglich ein paar Quadratmeter, und wenn da plötzlich die Außenwelt herandrängt, wehrt er sich wie Tohu und Bohu mit der bewährten Strategie des Verteidigungserstschlags. Und fühlt sich unendlich klein.

Dabei ist er – und das könnte ein kleiner Trost sein – größer als er denkt. Nämlich umfaßt er einen Bestandteil, der sich Desoxyribonukleinsäure nennt und so was ähnliches ist wie eine Bibliothek mit sämtlichen Büchern, die jemals auf Erden geschrieben wurden (oder sagen wir: bevor der moderne Literaturbetrieb ins Leben trat und sich zu bemühen begann, die Stelle der Klopapierindustrie zu übernehmen). Ohne diese Substanz (die neuerdings stur DNA abgekürzt wird, obwohl sie eine Säure und keine Äure ist) wäre jeder einzelne Mensch ab Geburt ein Experiment mit ungewissem Ausgang: Er könnte sich zum grüngrauen Schwabbel entwickeln oder zu gar nichts, aber ein erwachsener Mensch käme höchstens alle 25 Milliarden Jahre durch Zufall heraus. Und so alt ist das Universum noch lange nicht; es gäbe also höchstwahrscheinlich nicht einen davon.

Nähme man nun die DNS eines einzigen Menschen, entfaltete sie luftschlangenmäßig und knüpfte sie zum Band zusammen, das dem Dichter Mörike zufolge der Frühling in blau durch die Lüfte flattern läßt, – dann könnte dieses Band bis zum Kleinplaneten Pluto flattern. Und wieder zurück. Und zwar achtzehnmal.

Die Einsicht in die eigene, bis anhin unbemerkte und unverschuldete Größe, Weite und Würde ist geeignet, dem Menschen Demut einzuflößen (habe ich mal irgendwo gehört). Somit wäre diese Erkenntnis ein hübscher Anlaß, zu begreifen: Mag die Welt auch groß erscheinen – ich bin größer und habe es drum nicht nötig, mich durch ungeordnetes Verteilen von Müll bemerkbar zu machen, der selbst als Gesamtmenge kaum bis zum Saturn reichte. Und mag sie auch bisweilen eng wirken – pah! Da spare ich mir das Dröhnen, Rasen und Ramponieren und lasse lieber still mein Bändchen flattern, bis zum Pluto und zurück, achtzehnmal zur Not.

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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