Ein Bekannter hat mir die Geschichte von Lenins Gehirn erzählt: Das zerschnippelte man nach dem Tod des Oberrevolutionärs in 30.963 dünne Scheiben, die einem deutschen Forscher zur Untersuchung vorgelegt wurden. Man hoffte in dem zerebralen Carpaccio Indizien für Genialität zu finden, fand jedoch anfänglichem Jubel über superviele „Assoziationsstränge“ zum Trotz letztlich nur Spuren der geerbten Versteinerung (oder, je nach momentaner Theorielage, Syphilis), die Lenin dahingerafft hatte.
Das mag daran liegen, daß sich aufgrund der etwas unklaren Beschriftung die einzelnen Scheibletten nicht mehr so richtig zu einem ganzen Hirn zusammenbauen ließen. Zwar wurden sie akribisch photographiert, was unter Umständen helfen hätte können. Allerdings landeten die Bilder auf wiederum unklaren Wegen in Berlin, wo irgendwer auf die Idee kam, Schultüten für Kinder daraus zu drehen.
Man sieht: Die Welt- oder Medizin-, jedenfalls die Geschichte geht seltsame Wege. Und wir wissen nicht mehr als das: Ein Gehirn ist etwas, wo etwas hineingeht und etwas herauskommt. Eine „Black Box“, wie man gerne sagt, wenn man etwas meint, von dem man nicht weiß, warum das, was herauskommt, herauskommt.
Von solchen schwarzen Schachteln redet man in letzter Zeit besonders gerne, wenn es um Computer und das Internet geht. Zum Beispiel wenn man sich bei einem Onlinehändler ein Paar Socken bestellt und erfährt, was einen noch so interessieren könnte: eine Energiesparlampe, eine CD von Public Enemy, ein chinesischer Kräutertee und ein Buch, das man selber geschrieben hat. Da kann einem schon mulmig werden, weil diese Information gar so blackboxig daherkommt und man sich von ebenso unsichtbaren wie undurchschaubaren Kräften gesteuert fühlt, die der moderne Plappermensch gerne als „Algorithmen“ bezeichnet.
Was ein Schmarrn ist. Ein Algorithmus hat in einer „Black Box“ nichts verloren, weil er nichts zu verbergen hat. Ein Rezept zur Herstellung von Kräutertee aus Kraut und heißem Wasser wäre zum Beispiel so ein Algorithmus, ebenso wie eine Handlungsanweisung zum Öffnen der Wohnungstür mittels Drücken der Klinke oder eine Vorschrift, die besagt, daß man einen bestimmten Geldbetrag bezahlen muß, wenn man eine bestimmte verbotene Handlung durchführt.
Daß man das finstere Walten der Computerprogramme als Algorithmen bezeichnet, könnte daran liegen, daß der arabische Rechenmeister Al-Chwarizmi, dessen Namen wir die Bezeichnung verdanken, auf populären Portraits das Musterbild eines orientalischen Assassinen abgibt, dem der diffus rassistische Westmensch alles zutraut, auch ein Bombardement mit dunkler Desinformation über seine angeblichen Konsumwünsche. Aber das soll uns heute mal nicht interessieren. Sicher ist: Wir fühlen uns bedroht und umstellt von schwarzen Kisten, die besser Schach spielen als wir, Atomkraftwerke steuern, U-Bahnen und Flugzeuge lenken, Facebook mit angeblich „personalisierter“ Reklame vollstopfen, die uns überwachen und durchschauen, dabei auch noch ständig schlauer werden (und zwar von selbst!) und eines Tages möglicherweise einen großen Krieg anfangen, ohne daß wir wüßten, warum.
Freilich: Die Vorstellung, daß ein selbstfahrendes Auto selbst entscheidet, ob es lieber seinen Insassen opfern oder die spielenden Kinder am Straßenrand totfahren soll, wirkt auf den ersten Blick ziemlich ungemütlich. Aber weshalb sollte man die Entscheidung der offenbar sowieso überforderten Augenblicksintuition des rasenden Porsche-Rambos überlassen? Das Problem ist in diesem Fall doch eher, daß wir es überhaupt zu- und so weit kommen haben lassen, daß Autos an spielenden Kindern vorbeidonnern.
Ähnliches gilt auf anderen Gebieten. Wieso sollte ein Computer weniger geeignet sein, einen kriminellen „Steuersünder“ zu verurteilen, als ein menschlicher Richter, der möglicherweise mit dem Millionenhinterzieher zur Schule gegangen ist oder jeden Sonntag mit ihm Golf spielt? Wer wundert sich noch über die seltsamen „Empfehlungen“, die ihm Amazon zuschanzt, wenn er einmal einen Flohmarkt aufgesucht hat, um „sich umzuschauen“ oder ein bestimmtes Küchengerät zu suchen, und mit einer Rucksackladung von hübschem Klimbim heimgestapft ist? Und was stört uns daran, daß Computer schon drei Monate vor einer Wahl wissen, wen wir in die Parlamentsbude hineinwählen, wo wir doch sowieso höchstens über die hintersten Plätze vorgegebener Listen entscheiden dürfen und es letztlich egal ist, welcher neoliberale Haufen die nächsten Steuersenkungen für Reiche beschließt?
Ich wohne in einem Haus, das 101 Jahre alt ist und heute so nicht mehr gebaut werden kann. Weil das traditionell von Baumeistermund zu Baumeisterohr weitergegebene Wissen, das dafür nötig war, durch DIN-Normen ersetzt wurde und verschwunden ist. Wenn da irgendwo mal ein Balken knackt oder ein Steinchen durch den Kamin rumpelt, weiß niemand, wieso. In diesem Haus steht ein Kleiderschrank, aus dem ich neulich ein altes T-Shirt rausgeholt habe. Noch während ich es anzog, stellte ich fest, daß es einen bislang unbekannten Riß aufwies, zu dem sich gleich ein zweiter gesellte, dann noch und noch einer, bis das ganze Ding als Haufen von Fusseln und Fäden vor mir lag.
Klar: alles hat seine Soll- und Kannbruch- und -rißstellen. Aber daß sich ein ganzes T-Shirt binnen Sekunden in seine Bestandteile auflöst, ist ungefähr so wahrscheinlich wie daß sämtliche Neuschwabinger Schampuserbenpaare, die momentan mit ihren rollenden Nachwuchsboliden die Bürgersteige verstopfen, gleichzeitig die Notwendigkeit der Selbstverwirklichung in sich entdecken und zum Scheidungsanwalt rennen. Man könnte sagen: Nicht nur unser Haus ist eine „Black Box“, sondern auch mein Kleiderschrank. Und mein Gehirn sowieso, denn ich weiß ja nicht mal, wieso ihm ausgerechnet heute ausgerechnet dieses T-Shirt in den Sinn gekommen ist. Ganz zu schweigen von den Amseln, Meisen und Eichkätzchen, die derweil vor dem Fenster herumhüpfen und -flattern, ohne daß in dem wirren Treiben irgendein Sinn oder Ziel zu erkennen wäre. Der stündliche Computerabsturz ist in diesem Tohuwabohu fast so etwas wie ein Anker der Verläßlichkeit.
Anders gesagt: Die ganze Welt besteht aus schwarzen Schachteln. Und wir können unser Hirn in noch so dünne Scheiben schneiden – verstehen werden wir davon höchstens ganz wenig.
Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.