Belästigungen 04/2018: Abgekürzt: Literatur und Leben, insbesondere (aber nicht nur) im öffentlichen Verkehrsmittel

Moderne Zeiten: Was immer wir tun, wir kürzen gerne ab. Was man sich vor zwanzig Jahren als Super-extended-Maxi-Mix ins sowieso pralle Regal schob, füllt heute als Klingelton kaum einen Nanometer auf der Telephonspeicherkarte. Und die Verwandtschaft, die man früher an den Weihnachtstagen in Halbtagesreisen per Kutsche quer durch Pampa und Tundra des Münchner Umlandes abklapperte, die besucht man heute bequem mit dem öffentlichen Verkehrsmittel, das der Münchner Bürger über Jahrzehnte mit seinem Steuergeld zu einem vollelektronisch gepowerten Transportsystem ausgebaut hat, bei dem altmodische Ärgernisse wie Verspätungen gar nicht mehr denkbar sind.

Zwar gibt die zuständige MVG offenbar den größten Teil ihrer Einnahmen für reichlich topfige Reklame und kryptische Digitalangaben zu Wartezeiten („1“ = ein bis zehn Minuten, „2“ = ein bis zehn Minuten usw.) aus, dabei fiel aber immerhin auch ein Budget für eine App ab, mit der sich jede Tour optimal abgekürzt planen läßt. Wenn wir zum Beispiel vom trauten Schwabinger Heim ins ferne Harlaching reisen möchten, empfiehlt die App als einzige und damit beste Möglichkeit, mit der U2 nach Giesing zu gelangen und dort in vier Minuten Treppenfußweg in einen (hoffentlich nicht allzu pünktlichen) Bus umzusteigen. Im Idealfall ist man in 41 Minuten am Ziel.
In solchen Fällen indes erweist es sich als nützlich, länger als der heutige Normalmünchner und MVG-App-Praktikant (also mindestens fünf Jahre) in München zu wohnen und daher zu wissen, daß auch die U1 nach Harlaching fährt, und zwar eine gewisse Teilstrecke lang auf demselben Gleis wie die U2.  Aus dieser Überlegung ergibt sich folgender abweichender Reiseplan: U2 zum Hauptbahnhof, zwei Meter Fußweg zur U1. Fahrtdauer mit dieser Variante: 19 Minuten.

Andererseits hat die Recherche dieser sicherlich zeitsparenden Route Zeit gekostet, die man besser im öffentlichen Verkehrsmittel verbringen sollte. Da nämlich tat man früher bevorzugt das, was heute wg. Handy, Apps und solchem Schmarrn immer weniger Leute tun: lesen. Und zwar Bücher. Daß das immer weniger Leute tun, ist schlimm, sagt man uns mit periodischen Kampagnen, bei denen mal Günter Grass auf dem Titelblatt eines Bahn-Reklamehefterls behaupten durfte: „Ich will zum Lesen anstiften“, und heute eine deutsche Filmemacherin behaupten darf: „Das Buch kann immer mehr, weil das Buch keine Schwerkraft kennt.“1

Zufällig interessiere ich mich für Literatur und schaue ab und zu ganz gerne in die Vorschaukataloge von Verlagen hinein, die ja einem unergründlichen Gesetz zufolge für das Indieweltbringen von Literatur zuständig sind. Da stehen dann Dinge wie diese (zufällig ausgewählt): „XY erzählt von Schatten und Licht, Verzweiflung und Sehnsucht, Verrat und Vergebung. Ihr packendes Debüt bringt alle Facetten der Freundschaft zum Leuchten, die Leidenschaft, die Sanftheit – und die Liebe, in ihrer heilsamen, aber auch funkelnd grausamen Pracht.“

Da möchte man denken: Dieses Buch kenne ich doch schon, habe es dutzendemale in dutzenden Versionen aufgeschlagen, angelesen und zum Papiercontainer getragen! Der moderne Mensch aber denkt zuerst: Das läßt sich abkürzen! Und das tun die Verlage, indem sie solch blumige Girlanden mit knappen Empfehlungsslogans umtupfen: „Ein Erzählstil mit virtuoser Leichtigkeit bei gleichzeitig großer Sprachgewalt“, „temporeich, feinfühlig und unkonventionell“, „ein Buch zum Weitergeben in der Familie“, „ein zeitgemäßer“ bzw. „mitreißender Familienroman“, „für alle Generationen interessant“, „absolutes Gespür für Töne, Klänge, Rhythmen und Geräusche“, „rasantes Kopfkino für schlaflose Nächte“, „Literatur, deren weltumspannender Horizont seinesgleichen sucht“, „eine derartig talentierte und unberechenbare Autorin, daß ich offiziell ihrem Fanclub beitrete“, „ein Pageturner mit einer wilden, treibenden Geschichte und anhaltender Spannung“ „fesselnd und kaum beiseitezulegen“, „das Buch, nach dem sich jeder Leser sehnt: intelligent, spannend und unmöglich beiseitezulegen“, „ein beunruhigend gutes Buch“, das „viele Preise verdient“, „eines der bemerkenswertesten Bücher der letzten Jahre“, „unwiderstehlich und glaubwürdig und Objekt meiner absoluten Bewunderung“, „merkwürdig und verstörend, das Werk eines Genies“, „verzweifelnd schön, traurig und unvergeßlich“, „der bewegendste Abschiedsroman, den ich in meinem Leben gelesen habe“, „ein packendes Buch“, „ein ganz großes Buch“, „ungerührt und doch sanftmütig, mit Gespür für den Zeitgeist“, „berührend und spannend“, „mit einem einzigartigen Setting und einer emotionalen Präzision, die direkt ins Herz fährt“, „der überwältigende Roman ist manchmal kaum auszuhalten – und ein selten intensives Leseerlebnis“, „ein monumentales, jedem Genre trotzendes Meisterwerk“, „man kann nicht anders, als XY zu ihrer Lebensklugheit und überragenden Darstellungskunst zu beglückwünschen“, „XY schreckt nicht davor zurück, Familiendynamiken in eine dunkle und fesselnde Geschichte zu verwandeln“, die man, na klar, „nicht vergißt, lange nach der letzten Seite“. Und überhaupt: „Was will man mehr als unvergeßliche Figuren, komisches Timing, Originalität und Schärfe? Und Herz. Alles da. Fertig.“2

Wer könnte da widerstehen? Wer griffe da nicht umgehend zu einem solchen hochliterarischen Pageturner (den er möglicherweise irgendwann voreilig beiseitegelegt hat), um ihn nicht zu vergessen, lange nach der letzten Seite?
Oder nach einer solchen (ebenfalls zufällig ausgewählten): „Jeden Morgen stand Victor Balulu auf, kochte sich ein Ei genau zweieinhalb Minuten und aß es behaglich vor dem Radiogerät. Während die Sprecher über Inflationen und Kabinettssitzungen berichteten, tunkte Victor Balulu das Eigelb mit einer Scheibe Weißbrot aus und dachte sich, jetzt verspeise er noch ein Küken, das es nicht geschafft hatte. Nun wußte Victor Balulu sehr wohl, daß aus den Eiern im Lebensmittelladen ohnehin keine Küken schlüpften. Aber der Gedanke an das Küken machte ihm, neben leichtem Unbehagen, auch einige Freude, denn da konnte Victor Balulu, zweifellos ein unbedeutender Mensch, doch eigenhändig ein so großes Unheil anrichten. Ein Ei, zweieinhalb Minuten, jeden Morgen. Das macht ja dreihundertdreiundsechzig Küken pro Jahr, wenn man den Versöhnungstag und den 9. Av abrechnet, an denen Victor Balulu, wegen des Fastengebots, kein Ei und auch sonst nichts aß. Nahm man Victor Balulus Lebensjahre zur Grundlage, abgesehen vom ersten Jahr, in dem seine Ernährung auf Muttermilch basiert hatte, erreichte man die außerordentliche Summe von dreizehntausendvierhunderteinunddreißig Eiern, das heißt vierzehntausendvierhunderteinunddreißig Küken, die Victor Balulu in einem riesigen gelben Schwarm auf Schritt und Tritt nachtippelten. / Victor Balulu grübelt über diesen Kükenschwarm, während er die Brotkrümel und Dotterreste von seinem Teller spült und sich ankleidet. Das Etikett am Hemdkragen belehrt ihn, daß das Hemd in China genäht wurde, erste Wahl ist und nicht heißer als zwanzig Grad gewaschen werden darf. Victor Balulu schenkt diesen Daten nur wenig oder gar keine Beachtung, obwohl China immerhin ein Land mit eins Komma vier Milliarden Einwohnern ist, ja überhaupt eine Weltmacht. / Hat er sein Hemd fertig zugeknöpft, die Hose aber noch nicht angezogen, geht Victor Balulu meist seine Notdurft verrichten. Ernsthaft und mit erheblichen Befürchtungen setzt er sich auf die Kloschüssel und wartet, was der Tag bringen mag. Nie bedenkt er, daß die Toilettenschüssel, auf der er sitzt, aus Indien stammt, das mit China eine Grenze und eine weitgehend auf Reis basierende Ernährung gemeinsam hat. Sobald Victor Balulu fertig ist, betätigt er einen kleinen Metallgriff und schickt seinen Kot aus dem vertrauten Bereich, in dem er entstanden ist, in die Abwasserrohre der Stadt Beer Sheva und von dort, auf gewundenen Wegen, ins Meer. Zwar werden die Fäkalien Beer Schevas niemals ins – viele Kilometer entfernte – Meer geschickt, sondern durch Rohre und Maschinen einer Sickergrube in der Nähe des Sorek-Bachs zugeleitet, aber in gewisser Hinsicht fließen ja alle Flüsse ins Meer, sogar ein versiegender Bach. Diese Gewißheit ist Victor Balulu besonders wichtig, denn obwohl er mit einigem Unbehagen daran denkt, daß sein Kot jetzt die unergründlichen Tiefen des Ozeans verschmutzt, empfindet er doch auch etwas Freude, weil er, Victor Balulu, ein Mann, über den man sich nicht viele Gedanken macht und der seine eigene Existenz zuweilen sogar selbst vergißt, weil dieser Mensch also etwas produziert hat, das eben jetzt über den weiten Ozean schwimmt.“3

Das ist, na klar, weder bemerkenswert, noch intensiv und zwar kaum auszuhalten, aber jedenfalls keine Literatur. Abgekürzt und damit in Literatur (oder wenigstens Raum für Literatur) verwandelt könnte die Passage so lauten: „Victor Balulu stand auf, aß ein gekochtes Ei, zog ein Hemd und, nachdem er die Toilette benutzt hatte, eine Hose an.“ Dann wäre das betreffende Buch wie die meisten seiner heutigen Artgenossen aber nicht mehr 424, sondern nur noch zehn Seiten dick und kein richtiges Buch mehr.

Dann könnte man, um Zeit zu finden, sich mit richtiger Literatur (oder anderen schönen Dingen) zu beschäftigen, die Sache abkürzen, indem man den Umschlag anschaut und feststellt: Moderne Autoren haben oft modische Frisuren und schauen bedeutungsvoll. Das gilt aber auch für die Mitmenschen im öffentlichen Verkehrsmittel.

1Das Zitat von Doris Dörrie entnahm ich der Zeitschrift Münchner Feuilleton, November 2017, S. 17.

2Die Sprüche entstammen den jeweils ersten Seiten der Frühjahrskataloge 2018 der Verlage Kein & Aber und Frankfurter Verlagsanstalt.

3Die Passage entstammt dem Buch „Löwen wecken“ von Ayelet Gundar-Goshen (Kein & Aber 2015), das fast durchgehend und ausschließlich aus derart wirrem Bullshit besteht und über das Elke Heidenreich sagte: „Ich konnte nicht aufhören zu lesen. Das Buch ist eine Granate.“ Die FAZ meinte hingegen, es sei ein „mutiger Roman“; laut Deutschlandradio ist es „eine nachhaltige Verstörung, die den Leser veranlaßt, seine eigene Position immer wieder zu hinterfragen“. Im Klappentext behauptet eine WDR-Rezensentin, Gundar-Goshens erstes Buch sei „ein Roman wie ein Donnerhall“ (was immer das sein soll – laut Lexikon handelt es sich dabei um ein 2002 an einer Darmvergiftung verstorbenes deutsches Dressurpferd).

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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