Schallplatten sind rund, damit das Denken die Richtung ändern kann.
„Schallplatten? Wovon redet er denn jetzt wieder?“
Zudem ist diese nicht nur rund, sondern offiziell gesprochen: „coke bottle clear“, also minimal blaugrün schattiert, aber durchblickdurchsichtig. Man kann sie rotierend vor die Welt stellen, auf Dinge legen und den erstaunlichen Effekt erleben, durch die Welt hindurch und hinter die Dinge blicken zu können, die dabei in anderem Licht erscheinen. Veränderte Wahrnehmung induziert Einsicht in kosmische Relationen.
„O weh! Ich fürchte, er hat sich mal wieder einen Progressive-Rock-Virus eingefangen! Alle mit anpacken, wir müssen ihn auf den Boden der Tatsachen zurückzerren!“
Uff. Na gut, der Begriff „progressiv“ ist genrehistorisch vielleicht nicht ganz falsch, aber er suggeriert eine eindimensionale, mindestens diffus zielgerichtete Bewegung, die hier nicht stattfindet und nicht stattfinden soll. Vielmehr hat die Band Icarus The Owl, die im wesentlichen aus Joey Rubenstein und wechselnden Begleitern besteht, vielgestaltige und mehrfältige Wurzeln. Etwa im harten Grund des Epitaph- und Fat-Wreck-Chords-Hardcore der 90er und diversen Emo-Gärtchen, andererseits aber reichen sie bis ganz jenseits, weit drüben in den dichten Wäldern der verkopften Spintisiererei, in denen emotional verstörte Spätjugendliche vor Äonen unter dem Einfluß von überdosiertem Konsum und überzogener Analyse der Werke von Yes, ELP und Genesis herumirrten. Dazu aber perlen aus dem Tornado der Komplexität Melodiefragmente heraus, die sich sehr wohl in Radioformate hineinschleichen könnten. Wenn sie wollten (sie wollen nicht).
Werden wir, wenn’s sein muß, prosaischer: „Ich wollte mit meinen besten Freunden Musik machen und über Fürze lachen“, sagt Joey Rubenstein über seine Motivation, eine Band zu gründen. „Das erschien mir wie die perfekte Lebensweise.“ Und selbstverständlich, auch wenn sie hin und wieder gewechselt haben, besteht seine Begleitung aus seinen drei besten Freunden, die mehr tun, als die meisten könnten, und doch exakt genug, um zur Einheit zu verschmelzen: Drummer Rob Bernkopf (bei dessen Nachnamen man sich an die erwähnte Durchblickdurchsichtigkeit des cokeflaschenklaren Vinyls erinnert, aber gut, lassen wir das) wirbelt, donnert und rummst, aber das Fundament, das er legt, soll in erster Linie tragen und tut das mit solcher Sicherheit, daß Tim Browns Leadgitarre und ihre kaum in Noten zu fassenden Eskapaden darauf tanzen wie ein schlafwandelnder Hochseilartist. Jake Thomas-Low und sein Baß fallen nur dem auf, der ein spezielles Interesse hegt, und das ist auch in seinem Fall eine unersetzliche Stärke.
Aber Vorsicht. Es sind Songs, die auf dem fünften ITO-Album erklingen, allesamt zwischen 3:16 und 4:48 Minuten lang, also kompakt und greifbar, ohne Auswüchse und delirierende Nichtaufhörenkönnerei. Fast bodenständig, könnte man meinen. Aber ihre Komplexität weist und wirkt nach innen; wähnt man eine Verschachtelung ergründet haben, öffnet sich eine neue, mit solcher Eleganz und Geschwindigkeit, daß von fern der Eindruck eines ununterbrochenen, ständig insgesamt changierenden Schillerns entsteht. Wer darin erst mal hängenbleibt, den wirbelt es in eine gefühlte Ewigkeit hinein, in der sich ein phantastischer Kosmos öffnet.
„Obacht! Er schwebt wieder los!“
Das Abbild dieser Wirkung sind Rubensteins Texte: Da meint man klare Dinge zu erkennen, aber die Metaphern, Allegorien, Bilder verschwimmen und zerweichen ineinander hinein, machen neugierig und wachsen sich aus. Nehmen wir die erste Strophe von „The Renaissance Of Killing Art“: „My colossal waste of time outside of the concert halls / I have been a fraud / They look the same to me; it’s the renaissance of killing art / But no one gives a fuck. / Cold, oscillating brain; fingers in the ground / They lended me technology and now I’ve got to leave / Souls shattered on the bones of previous unknowns / Cauterize the bloody mess and churn one out for me.“
Na, wollen wir darüber mal sprechen? Hat jemand zwei Wochen Zeit? Dann drehe ich schon mal lauter und hole die Teebeutel.
Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.