Wenn zwei das gleiche tun, ist es meistens nicht dasselbe. Und ob es das gleiche ist oder als das gleiche betrachtet wird, hängt sehr stark von etwas ab, das man die jeweilige gesellschaftliche Verfaßtheit nennen könnte.
Zum Beispiel gilt es im Rahmen der Regeln, auf die sich unsere Herrschenden geeinigt haben, als durchaus normal, daß einer einen tonnenschweren, giftausstoßenden Blech-Plastik-Kasten auf öffentlichem Grund abstellt. Daß das grundsätzlich ganz und gar nicht normal ist, bemerkt man (falls man überhaupt noch was bemerkt), wenn ein anderer eine verrostete Badewanne oder einen alten Kühlschrank danebenstellt, der höchstens einen Zentner wiegt, niemanden töten kann (außer er fiele aus mindestens drei Meter Höhe auf ihn drauf, was Kühlschränke selten tun) und nicht mal mit einem dröhnenden Verbrennungsmotor ausgestattet ist: Da stürmt sofort jemand daher und prangert in traditionell deutscher Hausmeistermanier die Verschandelung des Stadtbilds durch illegale Entsorgung von Sperrmüll an. Obwohl in den Kühlschrank notfalls ein Igel einziehen und es sich dort den Winter über gemütlich machen könnte, was bei einem hermetisch zugesperrten „sportverwendbaren Vehikel“ nicht geht. Das fährt meistens über den Igel drüber.
Nehmen wir einen anderen Fall. Da hängt an einer Wand das Bild eines Hauses, das in einer Truhe mit Goldstücken steht. Dazu gibt es als Erläuterung den Spruch: „Ihre Immobilie ist Gold wert.“ An einer anderen Wand hängt kein Bild (weil das Haus, zu dem die Wand gehört, bildhaft deutlich genug ist), da steht nur ein Spruch: „Gentrifizierung angreifen!“
Der Unterschied ist geringer als man spontan meint. Beide Botschaften sind öffentlich sichtbar. Beide Urheber haben Geld für die Veröffentlichung ihrer Botschaft ausgegeben – der eine für den Druck des Plakats und dessen Anbringung, der andere für eine Farbsprühdose plus (indirekt) seine eigene Arbeitszeit. Beide nehmen, wenn auch unterschiedlich, zu dem gleichen Vorgang Stellung. Und beide erregen damit bewußt und ziemlich unverschämt öffentlichen Ärger.
Allerdings, und hier fängt der Unterschied an, ärgern sich über die „Gold“-Provokation lediglich die Hunderttausenden von „normalen“ Münchnern, die den größten Teil ihrer Lebenszeit mit blöder Arbeit verschwenden, damit sie nicht irgendwann in eine verrostete Badewanne oder einen alten Kühlschrank am Straßenrand ziehen müssen, und die tagein, tagaus mit der deprimierenden, nervlich und körperlich zerrüttenden Angst leben, daß ihnen das sehr bald und plötzlich doch passiert. Hingegen kratzt die „Angriff“-Provokation diejenigen, die (oder deren Eltern und Großeltern) durch die Arbeit der anderen reich geworden sind und sich mit einem Fingerschnipsen eine 500-Quadratmeter-„Suite“ kaufen können, von deren Panoramafenstern aus sie eine herrliche Aussicht auf die wuchernde, von hier aus unsichtbar bibbernde Münchner Stadtlandschaft und ihr kostenlos auf öffentlichem Grund abgestelltes „sportverwendbares Vehikel“ haben.
Und wenn die etwas kratzt, lassen sie ein Gesetz machen. In diesem Fall: eines, das das Bemalen eines Hauses als „Sachbeschädigung“ definiert, obwohl dabei nicht der geringste Schaden entsteht. Die anderen hingegen können sich nicht wehren, die müssen die demütigende Beleidigung einfach hinnehmen, an der sie jeden Tag auf dem Weg zur Blödarbeit vorbeihasten, ohne sie ausblenden zu können: Deine Immobilie wäre Gold wert, wenn du eine hättest! Hast du aber nicht, ätsch! Und deswegen gehört dein Leben uns, und weil das Loch, in dem du haust, ebenfalls Gold wert ist und auch uns gehört, schmeißen wir dich da hinaus, wann immer es uns paßt und sobald jemand daherkommt, der noch mehr dafür bezahlt!
So geht das in der Welt, wenn Menschen das gleiche tun und es aber nicht dasselbe sein darf. Ganz gelegentlich mal, wenn Gleich und Selb in gar zu argen Widerspruch gerieten und der Ärger der vielen Benachteiligten den Grummel der wenigen Bevorzugten allzu grell überstrahlte, passierte es früher, daß man handgreiflich wurde. Indes schmeißt der Deutsche dann nur im äußersten Extremfall das nichtsnutzige (Geld-)Adelspack hinaus und quartiert sich in dessen Schlössern und Suiten ein. Normalerweise geht er einen seiner üblichen Sonderwege, die gerne mal in einem Weltkrieg enden.
Zum Beispiel: trafen sich vor dreihundert Jahren (und ein paar Wochen) ungefähr 450 Studenten auf einer Burg, weil sie die Nase voll hatten von Unterdrückung, Ausbeutung und den Vorläufern der Gentrifizierung.
Zumindest möchte man das meinen, wenn man liest, was sie im Tagesverlauf ihrer Zusammenrottung so an Forderungen aufstellten: „Freiheit und Gleichheit“ seien „das Höchste, wonach wir zu streben haben“, hieß es da, „die Geburt“ sei „ein Zufall“ und „Vorrechte sind mit der Gerechtigkeit unvereinbar“.
Hoppla! denkt man, vielleicht sogar: Wow! Aber es ist der Deutsche halt ein Deutscher, und so stand gleich im ersten Paragraphen der Forderungen das, was damals und fürderhin als einzige zulässige, wichtige und durchsetzungsfähige Forderung aus solchen Beratschlagungen hervorging: „Ein Deutschland ist, und ein Deutschland soll sein und bleiben.“ Abends, als alles formuliert war, soff man sich besinnungslos, grölte „Ehre! Freiheit! Vaterland“ und verbrannte Bücher. Der Weltkrieg ließ noch auf sich warten, folgte aber unausweichlich.
So geht das beim Deutschen. Hundertzwanzig Jahre später bejubelte er das Sinken der Arbeitslosenzahl unter die Millionengrenze, pfiff auf Ausbeutung, Unterdrückung und den versprochenen „Sozialismus“ und betete einen nagelneuen Adel von Führern und Bonzen an, der zwar ein Haufen krimineller Schweinsköpfe war, aber immerhin dafür gesorgt hatte, daß ein Deutschland war. Wieder verheizte man Bücher. Der Weltkrieg kam diesmal schneller.
Daß dreißig Jahre später schon wieder die Studenten aufbegehrten und schon wieder Freiheit, Gleichheit und so Zeug forderten, lassen wir heute mal unter den Tisch fallen. Was dabei herauskam, ist ja ebenfalls bekannt: die Freiheit, zu konsumieren, eine „grüne“ Partei, deren Führer das Unternehmen Barbarossa wiederholen möchten, und ein paar versprengte Irre, die immer mal wieder den Holocaust leugnen.
Heute wiederum, wo der Deutsche in seiner überwältigenden Mehrheit gründlicher und effektiver ausgebeutet, unterdrückt und überwacht wird als mindestens seit dem mythischen Mittelalter und die Früchte dieser „Entwicklung“ in Form von Gentrifizierungsburgen, gleichgeschalteten Propagandamedien und Millionen von Kameras jeden Tag vor der Nase hat, was tut er da? Er wählt FDP und AfD, grölt moderne Versionen von „Ehre! Freiheit! Vaterland!“, möchte alles, was noch elender daherkommt als er selbst, aus dem Land schmeißen und huldigt dem nicht mehr ganz so neuen Adel von kriminellen Schweinskopfbonzen, weil er insgeheim davon träumt, eines Tages selber in so einen Suitenpalast einzuziehen. Dazu muß man schließlich nur „Leistung bringen“! Und der Weltkrieg? Der dämmert am östlichen Horizont heran.
Auf die Frage, wieso es nicht dasselbe ist, wenn zwei das gleiche tun, und warum er sich diesen Irrsinn seit Jahrhunderten gefallen läßt und weshalb es ihn mehr empört, wenn jemand einen Suitenpalast anschmiert als wenn der Schmierer eingebuchtet wird, und so weiter … kommt er immer noch nicht.
Ich weiß: nicht nur der Deutsche (und schon gar nicht nur der Münchner). Der aber schon auch. Und im Zweifelsfall immer am vehementesten.
Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.