Belästigungen 15/2017: Schmilz! (ein fragloses Winken aus dem Elfenbeinturm)

Daß man sich in München befindet, merkt man am Schmelzen, dem herausragenden und prägenden Vorgang des hiesigen Jahreslaufs. Nämlich ist kaum auf der silvesterlichen Feuerzangenbowle der Schnapszucker zur karamellenen Infusion und bald darauf das Zinnblech zum trunken deutbaren Omen zerschmolzen, schmilzt schon auch das Alibieis am Isarrand, schmelzen die letzten Kerzen mit den kürzer werdenden Nächten dahin.

Dann schmelzen die Herzen in der linden Frühjahrsluft der mittleren Märztage, ergeben sich die winterlich gehegten Hemmungen dem Ansturm der Hormone und Hoffnungen, schmilzt der Wollbestand im Kleiderschrank voreilig dahin, zu voreilig meist, aber es schmilzt ja auch der Aprilschnee schnell wieder weg, und wer sein saures Radler einer neuen Sitte gemäß mit Wasserquadern kühlt, dem schmelzen auch diese bald eilends im Glas.
Es schmilzt das Vanille- und andere Eis unter dem eindringlichen Blick der Maisonne, und kaum ist Kokosöl auf der übereilt isargebrannten Haut zerschmolzen, schmelzen im Regensturm der Schafskälte die romantischen Träume von einem endlosen Frühsommer hinein in einen mißtrauisch beäugten Dochfrühsommer, der vielerorts schon die anderweitig romantischen Emanationen des Frühfrühlings wieder zum Hinschmelzen bringt und einem beziehünglichen Alltag Bahn bricht, in dem schmelzende Karrierepläne mit schmelzender Körperbegierde und allseits schmelzenden Privatchimären kollidieren und verschmelzen zu einem reißenden Gletscher, der einem ungewissen Horizont der gewähnten Zukunft entgegenströmt. Oder -schmilzt?

Der Münchnermensch, kaum heimisch geworden im hinterher wieder und neu anbrechenden Hitzegetöse, sieht hilflos dem Hinschmelzen seiner wie alljährlich verschiebungsbedingt überhobenen Sommervorhaben zu, während im Juliherbst die Gewitterkrawalle toben und dem August ein Hochwasser bescheren, in dem die Ergüsse des Himmels mit der Bräune des irdischen Lehms zu einer grimmigen Dauerwalze zusammenschmelzen, die den Isarstrand unbegänglich macht und das Herz vermeintlich unschmelzbar härtet. Dann streicht man ruhelos den Flußlauf entlang, tapst in kaulquappenbewimmelte Trübpfützen und sehnt sich an schon wieder dräuend früher dunkelnden Nachmittagen zurück nach der kaum vergangenen Zeit, als alles so endlos und versprechungsschwanger schien.
Es ist das Leben ein stetes Vergehen, und alles, was man im Kommen, Wachsen und Werden wähnt, ist schon vorbei, ehe man es greifen konnte. Und …

… während man solch müßiges Sinnieren in die Tastatur schmelzen läßt, angeregt vom leisen Rascheln der Kirschbaumblätter, vom zaghaften Zwitsch des neugierigen Rotkehlchens und vom vorlauten Zirp des Heuhüpfers, tönt plötzlich eine körperlose Stimme in der Echokammer: Wolltest du nicht eine resumierende, apologielos wertfrei deutende Analyse der Geschehnisse verfassen, die sich unlängst in Hamburg zutrugen und deren stetig schwellende Nachlawine nun als monolithische Walze von diffuser Bedrohlichkeit in den Alltag hineinschmilzt?

Freilich, das könnte man. Aber man weiß ja viel zu wenig, weil viel zu viel geplärrt wird. Ist es wirklich erquicklich, all das, was bereits gesagt ist, noch mal zu sagen, wenn es im Sturm des Beschwörens, Warnens und Drohens sowieso niemand hört, der es nicht schon gehört hat? Hat ein neuerlicher Versuch der Definition dessen, was „links“ ist und was mit Sicherheit nicht, mehr Sinn und Zweck als die vermutlich nicht zu beantwortende Frage, ob unter den Hamburger Randalierern möglicherweise tatsächlich Linke waren und nicht nur überforderte Polizisten, gedungene Provokateure, Krawallhooligans, betrunkene Partykids, Wutbürger und rechtsextremistische Süppchenkocher? Nützt es, darauf hinzuweisen, daß Gewalt selten dort anfängt, wo ein Auto brennt, aber oft dort, wo ein Auto produziert wird? Muß oder soll man wirklich noch mal erwähnen, daß die sogenannten „G 20“ den gesamten Erdball mit Gewalt und Terror überziehen, daß die den Gesetzen von Logik und Hydraulik hier und da auftretende Gegengewalt aber so gut wie nie die dafür Verantwortlichen trifft und daß man solche Gegebenheiten feststellen kann, ohne sie zu rechtfertigen? daß es unhöflich, unangemessen, demütigend und unverschämt ist, ständig von Leuten zu verlangen, daß sie sich von Dingen „distanzieren“ und dafür entschuldigen, mit denen sie nicht das geringste zu tun haben? daß die faschistoide Kopfjägerbande, die jetzt per Schlagzeile zur gesamtdeutschen Hetzjagd auf vermeintliche Volksschädlinge aufruft, brav schweigt, wenn andere Unterkünfte und Menschen anzünden? und daß man nicht mal weiß, ob man das eine oder das andere noch schlimmer oder weniger schlimm findet?

Sind ja alles nur Fragen, und wer mag sich schon obendrauf und -drein noch Fragen stellen lassen, die man nicht beantworten kann beziehungsweise die sich von selbst beantworten?

Nein, da steigt man lieber hinauf in den Elfenbeinturm, der gar nicht aus Elfenbein, sondern höchstens aus Holz, im Zweifelsfall aber nur aus Luft, Liebe und ungefährem Sinnieren geschnitzt ist, und läßt sich angesichts des anderweitigen Flammens, Prallens, Brüllens und Fäusteschwenkens vom Anblick eines still gleißenden Eiswürfels zu einer kontemplativen Kette von schweifenden Gedanken verführen, deren Sinn am Ende sein könnte, dem ganzen vielen, allerorts beschworenen Sinn ein marmornes Becken hinzustellen, in das er schmelzen und in dem er als harmlose Pfütze ruhen möge.

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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