Sagt dies den (frisch) Verlassenen dieser Erde: Musik hilft!
Oder so: Wenn alljährlich zwischen der Aprilmitte und den Eisheiligen der Winter noch einmal sein graukrauses Haupt erhebt, es vor die Sonne reckt und deren Strahlen mit klirrendem Froststurm und flockendem Schneegeschmeiß unterbindet, stellt sich bei Menschen, deren mindestens sonnenhaft strahlender Glückstraum aus dem Spätmärzsommer im Zweitwinter auf einem verwehten Abstellgleis langsam zu Stein gefriert, eine seltsame nostalgische Mixtur ein. Die Erinnerung an die jüngste Bauchlandung aus der romantischen Schwebe auf dem kalten Pflaster der Realität changiert und fließt hinein in aufwallende Gefühlsreminiszenzen vergangener Aprilwinter. So entsteht ein ewiges, auch in der zehnten Wiederholung nicht zu stillendes Sehnen, das sich dem „Es wird halt einfach nichts!“-Diktum der schnöden Lebenserfahrung einfach nicht beugen will.
Dann sitzt man äußerlich katatonisch gelähmt, innerlich tobend rotierend im Sessel, bestarrt das monoton stumme Schneiben und wünscht sich zurück oder vor oder weg oder wenigstens irgend etwas herbei, was das dumpf surrende Laufrad der zusammenhanglos wiederkehrenden Bilder und Gedanken zum Schweigen bringt. Musik könnte heilend sein, aber wo kriegt man sie her in diesen Zeiten, da gute Musik für solche Gelegenheiten immer nur die alte ist, unlösbar verstrickt in andere, gleiche Augenblicke, die die neuen überdunkeln?
Das Handwerk des Liedermachens ist heutzutage ein Ausbildungsberuf. Unablässig wie eine Legion von Fließbändern in Reih und Glied spucken die einschlägigen Lehrinstitute normierte Jungdamen und -herren hervor, die normierte Gefühlssurrogate beschwören oder dies zumindest möchten, mit immer den gleichen Akkordfolgen, Klischees und immer der gleichen Wirkungslosigkeit. Wer unversehens an ihr „Material“ gerät, erkrankt unmittelbar an musikalischer Kitschdiabetes und fühlt sich hohl und leer wie eine aufgebrauchte Klopapierrolle.
Daß es Ausnahmen gibt, ist unbestritten. Joni Mitchell, Robyn Hitchcock, Rickie Lee Jones … Die Schatzkammer der tröstenden Juwelen ist tief und reich und läßt immer wieder hoffen, es könne doch mal wieder etwas Neues hervorblühen, etwas unergründlich Anrührendes, unsagbar Bewegendes, unfaßlich Schönes, was die Welt nicht zum glasierten Apfel glanzlackiert, sondern Kratzer macht, die ein Lächeln hervorkitzeln und auch mal schmerzen.
Ich weiß so eine Ausnahme, die nicht aus der fernen Vergangenheit winkt: Liann. Seine Lieder haben diese Qualität; sie erzählen Geschichten in scheinbar zusammenhanglos impressionistisch hingetupften Bildern, hellen und dunklen Farbpunkten, aus denen die Phantasie und die Erinnerung die eigene Geschichte weben. Sie tun mal weh, wenn sie unvermittelt ans Tiefe rühren, aber dann tragen sie einen hindurch durch den Nebel, lassen einen schweben in diffus warmem Licht.
Nach „Murmeltier“ mit sechs ist dies die zweite EP mit fünf Liedern, und wieder braucht Liann, um zu wirken, nur seine Gitarre, ein bißchen atmosphärische Begleitung und vor allem seine Stimme, diese entwaffnend offene, samtföhnige After-hours-Stimme, die unter dem Anschein von Gelassenheit und Naivität das Gewicht des Lebens trägt und auflöst. Zusammen wird daraus ein wundervolles Album, aber im Notfall genügt ein einziges (und zwar jedes) Liann-Lied, um aus einem düsteren Nachwinternachmittag eine in melancholischer Schönheit schimmernde Erinnerung zu zaubern, die einen nicht mehr verläßt und die man jederzeit wieder hervorholen kann, wenn Hilfe und Heilung nötig sind.
Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.