Über den (in gewisser Weise zumindest körperlich) neuen französischen Präsidenten war neulich von der neoliberalen Propaganda zu erfahren, er sei „gemäßigt“. Wenn so etwas über den derzeit radikalsten Wirtschaftsfaschisten in ganz Frankreich behauptet wird, könnte das höchstens noch er selbst als Rufschädigung oder Vortäuschung falscher Tatsachen empfinden, weil es sich in Deutschland seit Jahrzehnten eingebürgert hat, sämtliche ausländischen Politiker, die rückhaltlos und notfalls mit dem erbärmlichsten Wischiwaschischwindel für die Vernichtungsideologie der deutschen Elite eintreten, samt und sonders, einzeln, kollektiv und generell als „gemäßigt“ zu betiteln.
Was im Grunde ja nichts anderes heißt als: Früher waren die Burschen schlimm, jetzt haben sie gelernt, Maß zu halten und ihre Schlimmigkeit in den Zaum zu zwingen. Weil sie sonst keiner mehr wählt, fügt der Naive hinzu. Aber das ist ein Schmarrn: Gewählt wird, was die Elite zur Wahl stellt und die neoliberale Propaganda zur Wahl befiehlt. Da ist es ganz gleich, ob sich der Vorläufer des derzeitigen „Gemäßigten“ früher mal „Sozialist“ nannte oder „linksliberal“ oder meinetwegen „Bussibär“. Was herauskommt, ist immer das gleiche. Man muß es nur jedes Mal anders nennen, weil ein „Sozialist“ nach dem Wirtschaftsfaschisten Hollande und ein „Linksliberaler“ nach den Wirtschaftsfaschisten Schröder und Blair halt wirklich nicht mehr wählbar ist (vom Bussibär, als der sich zuletzt Boris Jelzin maskierte, ganz zu schweigen).
Also behängt man es im Zweifelsfall mit einem Begriff, der absolut gar nichts bedeutet, nicht mal mehr das, was er grundsätzlich bedeuten könnte. Und plötzlich gibt es in (fast) jedem Land der Welt genau einen Kandidaten, den die neoliberale Propaganda in Deutschland als wählbar und wünschenswert empfiehlt, und immer ist er angeblich „gemäßigt“.
Zufällig war mir „Mäßigung“ immer schon verdächtig und irgendwie widerlich. Die Temperenzler (benannt nach der lateinischen temperentia, eben: „Mäßigung“), die seit dem 19. Jahrhundert ihr Gewese trieben, wollten überhaupt nichts „mäßigen“, sondern den Genuß alkoholischer Nahrungs- und Getränkzubereitungen generell aus der Welt merzen, mit Stumpf und Stiel. Und zwar weil sie sich um die „Volksgesundheit“ sorgten, eine unabdingbare Voraussetzung für eine erfolgreiche Ausbeutungswirtschaft, weshalb auch nicht etwa die dauerbesoffene Adelselite ihr Zielpublikum war, sondern Arbeiter und Bauern, die das Elend ihrer Aussaugung durch selbige in Bier und Wein ertränkten, was logischerweise ihre Arbeitskraft und –motivation schmälerte und sie zwischendurch auch mal ein bisserl renitent werden ließ.
Nicht zufällig war es die deutsche Sozialdemokratie, der Stammverein des ausbeutungswilligen Humankapitals – traditionell zuständig für dessen Ab- und Zurichtung auf klaglose Hinnahme seines Schicksals als Unterschicht, die das Maul zu halten und zu schuften hat und dafür ab und zu ein Trostpflästerchen zugestanden kriegt –, die hierzulande am vehementesten für „Mäßigung“ eintrat. Heute besteht der gesamte Resthaufen aus „Gemäßigten“ (wie man hört, soll der neueste Oberpappkamerad sogar ein echter Temperenzler sein) und wird wohl auch nur noch von SZ-Abonnenten gewählt. Und ist mir beileibe nicht deswegen verdächtig und widerlich, weil ich gerne Bier trinke. Sondern andersrum und überhaupt.
Der Furor der „Gemäßigten“ bei der Umsetzung ihrer diversen antialkoholischen und neoliberalen Faschismen findet auf Erden ein Vergleichbares nur noch im Furor des deutschen Klein- und Mittelgroßgärtners, der wiederum sozusagen die Gartenzwergversion des Pegida-Rassisten ist. Oder wenigstens wird, sobald der Flüchtlingsstrom aus dem verwahrlosten Nachbargarten daherkommt und seine Zuchterfolge zu schmälern droht.
Da holt er Gift, Gas und Bombe aus dem Arsenal, verlangt sofortige Schließung sämtlicher Grenzen und Balkanrouten, und wenn seinem Anliegen nicht umgehend stattgegeben und brav gefolgt wird, läßt er die höchste Instanz anmarschieren und schmeißt notfalls Gift, Gas und Bombe eigenhändig über die Zäune. Ist schließlich sein Recht! und seine Pflicht! Wie soll der genormte EU-Apfel zu ordentlicher Kürbisgröße und Geschmacksfreiheit heranreifen, wenn ihn nachbarliche Antik-Gen-Pollen bastardisieren? Wer rettet die Gurke vor der Schnecke, die unanständige Faulenzer so lange sich mehren lassen, bis ihr Struppwucherareal dermaßen überhäuft und -kreucht ist von hungrigen Mollusken, daß deren Nachwuchs nur noch die Flucht bleibt?
Ist also auch der rasende und tobende Gartenbellizist ein „Gemäßigter“, den man daher als alternativloses Lebens- und Strebensvorbild dem gedankenlos vor sich hin dümpfelnden mittel- und vor allem südeuropäischen Genußbolzen vorsetzen und ihn damit zu mehr Leistungsbereitschaft anpeitschen sollte?
Mei, kann sein. Wer weiß. Ach ja. Und so. Tüdelü. (Hintergrundgeräusch zirpender Heuschrecken und flirrender Glühwürmchen sowie anderer Nichtsnutzwesen, die sich am wild wuchernden Nichtsnutzgrün rund um die Hängematte erfreuen.) Ich weiß, weil ich nichts zu tun habe als in gilbenden Nichtsnutzannalen menschlicher Histörchen herumzublättern, eine auch ganz putzige Geschichte: 1497 wurden Vorfahren des deutschen Rassengärtners in Avignon und drum herum von einer verheerenden Maikäferinvasion heimgesucht.
Der damalige Lösungsansatz bestand nicht etwa darin, das Saupack unter Inkaufnahme von Kollateralschäden mit Giftbomben auszurotten. Vielmehr befahl der zuständige Bischof der gesamten Schädlingssippe („Du unvernünftige, unvollkommene Kreatur“) per Plakataushang, binnen sechs Tagen davonzuweichen („von allen Orten, an denen wächst und entspringt Nahrung für Menschen und Vieh“). Andernfalls habe sie sich am sechsten Tage um 13 Uhr vor dem Richterstuhl des Bischofs einzufinden. Die Käfer, renitent wie sie sind und waren, ließen die Gnadenfrist verstreichen, erhielten einen letzten Aufschub und dann noch einen, blieben aber verstockt – und wurden daher ungeachtet aller Einwände ihres amtlich eingesetzten Verteidigers vom Bischof hochoffiziell exkommuniziert, mithin: zwangsgemäßigt, zumindest was ihre Hoffnung auf Eingang ins Himmelreich betrifft.
Oho! sagen wir. Und mäßigen unsere Ansichten über jene dunklen alten Zeiten, als alles so schlimm war, daß man irgendwann sich zu mäßigen sich angeblich gezwungen sah und deshalb heute zwingen sich lassen muß, „Gemäßigte“ zu wählen.
Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.