Belästigungen 12/2017: Es lebe die Weiße-Tücher-Armee-Fraktion! (ein konstruktiver Vorschlag)

Eine „repräsentative“ Umfrage ergab neulich, daß die Münchner – also hauptsächlich jene Menschen, die sich aus beruflichen Gründen momentan vorübergehend hier aufhalten – München gut und zugleich schlecht finden. Die einzelnen Resultate waren ebenso widersprüchlich: Man wünscht sich zum Beispiel weniger Autos, aber mehr Parkplätze. Was sich so deuten läßt, daß jeder einzelne weiterhin einen Großteil seiner Lebenszeit in Blechkisten absitzen und den Rest der Welt vergasen und totdröhnen möchte, die anderen sollen aber gefälligst darauf verzichten. Wie das halt so ist in einer Leistungsgesellschaft.

Auch daß man die Mieten einerseits zu hoch, andererseits aber das grundlegende System, daß überhaupt jemand Wohnraum vermieten und damit ohne jede Anstrengung stinkreich werden darf, ganz in Ordnung findet, ist ein Widerspruch in sich. Schließlich lautet in jedem Fall, wo man einen „Markt“ zuläßt, das Grundgesetz: Alles wird immer teurer, solange jemand blöd oder gespickt genug ist, dafür zu zahlen.

So ist der moderne Mensch: Er lebt am Rande des Nerven- und Körperzusammenbruchs dahin, verzichtet auf sein Leben, um sich ausbeuten zu lassen, und ist – weil ja alles noch schlimmer sein könnte – im Grunde recht zufrieden, abgesehen von ein paar Kleinigkeiten, die sich aber nun mal nicht ändern lassen, weil man dafür das gesamte Schweinesystem in Frage stellen und aus den Angeln heben müßte und dann am Ende womöglich eine glückliche, gerechte und gesunde Welt herauskäme, aber eventuell ohne Smartphone, Lotterie und Fitneßstudio.

Damit das so bleibt und der moderne Mensch sich weiterhin von der „Wirtschaft“ ausquetschen und mit ein paar windigen Ersatzbefriedigungen abfinden läßt, ohne daß er aufmuckt, murrt oder die Saubande, die ihm das alles zufügt, zum Teufel jagt, wird er tagtäglich und rund um die Uhr dermaßen mit Botschaften zugemüllt und eingesumpft, daß er gar nicht mehr merkt, daß es das München, das er zu mögen und zugleich nicht zu mögen glaubt, in Wirklichkeit überhaupt nicht gibt. Zumindest ist es nicht sichtbar im Tornado der systemstabilisierenden Reklame und Propaganda, die aus allen Rohren und Ecken und von sämtlichen Wänden und sonstigen Flächen bleckt.

Schuld daran ist die uralte Kulturtechnik des Lesens, die einen gewaltigen eingebauten Nachteil hat: Man kann sie, wenn man sie einmal erlernt hat, nicht mehr abstellen. Wer’s nicht glaubt, der radle oder flaniere mal eine halbe Stunde eine beliebige städtische Strecke entlang und versuche auch nur ein einziges Wort, das ihm von Plakatwänden, Zeitungskästen und sonstigen Signalstationen entgegenschreit, nicht zu lesen, sondern lediglich als graphische Erscheinung, als Ornament ohne Inhalt wahrzunehmen: Es ist zwecklos. Es nützt auch nichts, den Mist mit Gegenbotschaften zu verzieren, etwa indem man Zettel mit Aufschriften wie „sexistische Kackscheiße“, „Depp“, „Lüge“ oder „Stoppt den Terror“ draufbappt, weil das flächendeckend sowieso nicht geht und man dann eben auch noch die Gegenbotschaften lesen muß und trotzdem nicht in der Lage ist, einen einzigen klaren, länger als eine Hundertstelsekunde haltbaren Gedanken zu fassen.

Sind wir also hoffnungslos und unausweichlich dazu verurteilt, unser Leben lang ein gequirltes Müsli aus Kaufbefehlen, Denkvorschriften, ideologischen Parolen und sonstigen sinnfreien Unratflocken im Hirnkastl herumzutragen und unser gesamtes Tun und Denken davon lückenlos kontrollieren zu lassen, wenn wir nicht als Eremiten in einer einsamen Klause oder auf einem Berggipfel vegetieren wollen?

Vielleicht hätte ich eine Idee, die zwar viel Arbeit macht, sich aber lohnen könnte. Da es mutmaßlich verboten ist, Plakatwände und Zeitungskästen durch Aufbringen von Malfarbe oder Kleister zum Schweigen zu bringen, böte sich hier eine Gelegenheit, die ungeheuren Bestände an Bett-, Tisch-, Hand und sonstigen Tüchern, die sich infolge jahrzehntelanger großmütterlicher Weihnachtsbeschenkung und unbedachter Schnäppchenkauftätigkeit in unseren Schränken angesammelt haben und vor sich hin lagern, zum Einsatz zu bringen – als wirksamste Waffe gegen die Überflutung durch Schriftmüll. Statt die Sachen weiterhin modern und darauf warten zu lassen, daß sie eines Tages an neue Generationen vererbt werden, die genauso wenig damit anfangen können, holen wir sie hervor, begeben uns hinaus und holen uns unser Verfügungsrecht über den städtischen Raum zurück, indem wir sie über jeden böswilligen Gegenstand drüberhängen, der uns etwas vorschreibt, das wir lesen und damit in unser Denken hineinmontieren sollen.

Welch schönes Bild: eine Stadt, die schweigt. In der keine Hetzzeitung, kein Konsummuezzin, kein Verhaltens- und Meinungsbefehlshaber mehr herumblökt. Die erfüllt ist vom milden Lächeln wehender Tücher, von einer grandiosen, romantischen Leere, in der sich ihre urtümliche Schönheit ausbreiten und widerspiegeln darf und kann wie das Sonnenlicht. In der man wieder phantasieren, träumen, auch grübeln und tiefgründige Dispute führen kann. In der, kurz gesagt, der Mensch wieder lebt und nicht mehr herumgestoßen, gedrillt, drangsaliert und ununterbrochen seelisch versehrt wird.

Und wo wir schon dabei sind: Diesen Sommer droht (mal wieder) ein Overkill der Message-Keiferei, weil die Parteien frisches Geld und Nachschub an Legitimierung ihres üblen Tuns brauchen und daher die kandidierenden Pappkameraden nicht nur als solche in Armeestärke um und an jeden Baum und Laternenpfahl wickeln und kleben werden, sondern auch noch in echt über die Plätze treiben, um uns zu verkünden, was sie plötzlich angeblich alles wollen („Reformen“, „sozialen Ausgleich“ und ähnlich widerwärtige Leerhülsen).

Auch diese aufdringlichen Menschdarsteller verdienen das Tuch! Oder zumindest verdienen wir es, von ihrem hohlen Geplapper verschont zu bleiben. Vielleicht kommen uns in diesem Fall angesichts der überwältigenden Zahl der Politfiguren, die in die Parlamentsbuden hineingewählt werden sollen, unsere muslimischen Freunde zu Hilfe, in deren Schränken sich auch so einiges stapeln dürfte, was man anderweitig nicht mehr braucht?

Diese ganze textile Befreiungsbemühung wäre (vermutlich) nicht mal Sachbeschädigung, sondern höchstens im Einzelfall ein Verstoß gegen das Verschleierungsverbot. Ein läßlicher, möchte man meinen, angesichts des unfaßbaren Gewinns an Lebensqualität für uns alle – letztlich (sorry für den Kalauer) auch für die Betuchten selbst.

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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