Belästigungen 11/2017: Wem was wie wo und warum droht (und wem was nicht)

Manche Blödheiten funktionieren wie Brennesseln und Ameisen: Man kriegt sie einfach nicht weg, sie nesseln und wimmeln immer wieder aus denselben Ritzen und Löchern hervor, um arglose Menschen zu ärgern. Zum Beispiel trompetete mich neulich auf dem Weg ins Grüne mindestens zwanzigmal die gleiche „Zeitung“1 an: „Jeder 5. Münchner von Armut bedroht!“

Das war zum Glück gelogen, sonst wäre es schlimm: Von Armut bedroht ist bekanntlich so gut wie jeder, selbst der Multimilliardär, der zwar von seinen devoten Ausgebeuteten in Deutschland nichts zu befürchten hat, dem aber sämtliche Steuergeschenke und Spezln nichts helfen, wenn am Börsentheater die falsche Blase platzt. Die einzigen, die tatsächlich nicht von Armut bedroht sind, das sind: selbstverständlich die Armen, weil einem etwas nur so lange drohen kann, bis man es hat. Wer mit vierzig Grad Fieber im Bett liegt und sich Seele und Kehle aus dem Leib hustet, schwitzt, keucht und niest, täte niemals behaupten, er sei „von Grippe bedroht“. Das sind nur die, denen er seine Absonderungen ins Gesicht niest.

Wenn der zitierte Schlagzeilenquatsch wahr wäre, hieße das folglich: Jeder fünfte Münchner ist von Armut bedroht, die anderen vier, mithin achtzig Prozent der Bevölkerung, sind arm. Wie gesagt: schlimme Vorstellung, aber zum Glück nur ein Mißverständnis, das auf eine Lüge zurückgeht – freundlicher gesagt: eine Beschönigung, die vertuschen soll, daß in der insgesamt zweifellos reichen Münchner Stadt ein Fünftel der Bevölkerung arm ist, weil ein anderes Fünftel (oder eher Hundertstel) das anrafft und bunkert, was dem einen Fünftel fehlt. Das geben die, die daran schuld sind – Politiker, die großzügig darauf verzichten, ihre Pflicht zu erfüllen, für eine gerechtere Verteilung der gesellschaftlichen Reichtümer zu sorgen, und sich statt dessen vollberuflich darum bemühen, die Reichen noch reicher zu machen, damit sie ihnen gewogen bleiben – nicht so gerne zu. Nein: sie „räumen“, wie man in diesem Fall sagt, es nicht so gerne „ein“, weil das Wahlvieh sonst irgendwann doch mal sauer wird und keinen Bock mehr hat, den Skandal alle vier oder fünf Jahre mit einem Kreuzerl (egal für wen) zu genehmigen und abzusegnen.

Der Effekt ist in gewisser Weise magisch: Schwupp! gibt es keine Armen mehr, sondern nur noch ein paar Randwürstchen, die irgendwie diffus „von Armut bedroht“ sind, wie man halt im Winter von einer Erkältung bedroht ist. Ja mei, sagt der Empfänger der Botschaft, da muß man sich halt warm anziehen und kalt duschen, ein paar Vitamintabletten einschmeißen, eine Zitrone essen, und wer trotzdem krank wird, ist irgendwie selber schuld und hat’s nicht besser verdient.

Sowieso, kräht der neoliberale Kampfhahn, gibt es in Deutschland eh keine Armut. Die sollen mal nach Afrika oder Asien schauen, da sind die Leute wirklich arm! Während hierzulande eine stetig schwellende Armee von Megawampen ganz offensichtlich keine Sorge haben muß, ihre tägliche Pampenschlacke kiloweise mampfen zu können! Also Schluß mit dem Theater, Ärmel hochkrempeln und anpacken, dann ziehen wir den verkrusteten Karren mit einer Kanonade von „Reformen“ und einer „nationalen Kraftanstrengung“ gemeinsam aus dem bedrohlichen Dreck! (Das unmittelbar folgende „Hä hä!“ wird in den offiziellen Verlautbarungen gerne abgeschnitten.)

Da wären ein paar Dinge anzumerken. Wie ist es zum Beispiel mit der vor allem neuerdings so viel und oft beschworenen „Identität“ des Menschen, die durch kulturelle Teilhabe entsteht und für ein sinnhaftes Leben so unverzichtbar ist wie Kalorien, Vitamine und Flüssigkeit? Die, das lernt man in der Schule, erwirbt man durch den reflektierenden Konsum von Büchern, Filmen, Musik, Museen und anderen Kunstwerken, durch Diskussion und Diskurs, Debatte und Genuß. Daß man dafür Geld braucht, können die Verfechter der neoliberalen Totalreform nicht wissen, weil sie das Zeug in Form von Rezensions- und Leseexemplaren, Vorzugsausgaben, Eröffnungsgalas, Premierenfeiern und Einladungen in diverse Exklusivsalons und andere Buffetsausen samt Kaviar und Promipromo-Klatschreporter dermaßen draufgebuttert kriegen, daß es schon wieder lästig ist. Die stellen, wenn sie großherzig sind, Riesenkisten mit der Aufschrift „bitte mitnehmen“ auf die Straße und verschwenden keinen Gedanken daran, daß ein paar Stadtteile weiter gerade einem bildungshungrigen Jugendlichen eine unbezahlbar teure Abmahnung ins Haus flattert, weil er sich das Zeug, das sie achtlos wegschmeißen, nicht kaufen kann und deswegen „illegal“ heruntergeladen hat. Die jetten auf „Firmenkosten“ (d. h. auf Kosten derer, die arbeiten müssen, damit der Geldquell an der Spitze fröhlich weitersprudelt) durch die Kontinente, hausen in Luxushotels, düsen mit Dröhnkarossen die linke Spur entlang zum subventionierten Opernhaus und scheren sich nicht um die, die all das bezahlen, sich aber selber nie im Leben werden leisten können.

Denen bleibt ein kultureller Blechnapf voller Propagandamüll, Fernsehtrash, Nationalsportklamauk und das resignierte Gesamtgefühl, von dem elitären Gehampel und Gebrabbel sowieso nichts zu verstehen, weshalb sie am liebsten AfD wählen, weil die zwar laut Programm die finanzielle Spaltung der Gesellschaft in superreich und ausgebeutet noch viel radikaler vorantreiben will, ihnen aber immerhin ein Ventil anbietet: Zum Ausgleich für die eigene Ausbeutung darf man wenigstens mal wieder ungestraft ein bisserl Ausländer hassen, weil das die geschundene Seele tröstet, und schließlich sind an der Misere immer die schuld, die noch weniger haben und um ein Scherflein betteln. Man nannte das unter Reagan, Thatcher, Kohl, Blair und Schröder mal „Trickle-down-effect“, gab aber öffentlich vor, das genaue Gegenteil zu meinen: Wenn der Papa von der gemeinsamen Familienpizza jeden Tag ein noch größeres Stück frißt, werden automatisch auch die Stücke von Mama, Bub und Mädi größer. Hi hi.

Ob man derartige Zustände, Vorgänge und Entwicklungen „Armut“ nennt, ist wurst. Fest steht, daß es das gibt und daß es keinesfalls denen „droht“, die bereits im Schlamassel sitzen. Sondern (als nächstes) denen, die gerade noch so am Rand entlangbalancieren. Wenn man deren Anteil an der Gesamtbevölkerung der Stadt mal großzügig und äußerst konservativ auf fünfzig Prozent schätzt, müßte die ehrliche Schlagzeile demnach lauten: „Jeder zweite Münchner von Reichtum bedroht!“ Ich bin gespannt, ob wir so etwas irgendwann mal lesen dürfen.

 Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Kommentar verfassen