Daß der Mensch des Menschen Wolf sei, ist eine uralte Binsenweisheit, die durch Wiederholung nicht wahrer wird. Schließlich ist der Wolf bekanntermaßen ein höchst soziales Wesen, das niemals auf die Idee käme, seine Rudelgenossen mit Verelendungsmaßnahmen wie Hartz IV zu schikanieren, um sich selbst eine noch fettere Wampe anfressen zu können. Gemeint ist der in allen möglichen Märchen herumlungernde Böse Wolf, bei dessen Antreffen aufgrund seiner sämtliches Maß überschreitenden Gier mit Sofortverschlingung zu rechnen ist, und zwar dermaßen sofort, daß einen ein gütiger Jäger problemlos unverdaut, fit und fidel aus der Wolfsplautze wieder herausschneiden kann. Und zwar ohne daß der Wolf das in seinem hypersatten Mittagsschlaf überhaupt mitbekommt.
Das wirkt, übertragen auf den Menschen, ein bißchen unrealistisch; die Allegorie zwackt offensichtlich an den Hüften und im Schritt. Denn bis heute ist kein Fall bekanntgeworden, wo solch ein gütiger Jäger zur Stelle gewesen wäre, um ein armes Rotkäppchen aus dem Verdauungstrakt des kapitalistischen Wolfsrudels wieder herauszumessern und diesen durch massive Einbringung von Bruchgestein (oder dessen allegoristischer Entsprechung) zumindest vorübergehend außer Funktion zu setzen.
Nein, zum Bösen Wolf im Märchensinn wird der Mensch erst dann, wenn er zum Nachbarn wird. Und selbst dann geht es ihm in den meisten Fällen nicht darum, den durch seine Nachbarwerdung ebenfalls vernachbarten Mitmenschen zu verschlingen. Vielmehr soll dieser durch nachbarliche Penetration, Piesackung und Schikane moralisch und notfalls auch ökonomisch und physisch gebrochen und zur freiwilligen oder zwangsweisen Abwanderung aus dem Revier bewegt werden. Und hier versagen erneut alle Vergleiche, weil das klassische wölfische Wegbeißen dem Menschen aufgrund von Knebelgesetzen und Karies verwehrt ist.
Dafür hat er eine Erfindungsgabe. So baut er sich atomar betriebene Haushaltsgeräte, mit denen sich vor allem spätnachts selbst jahrhundertalte Ziegelbauten zum Vibrieren bringen lassen, ganz zu schweigen von modernen Betonschachteln, in denen unter dem massierten Ansturm der Smoothie-Püriermaschinen kein Steinbrösel auf dem anderen bliebe, wenn man sie nicht durch Einbringung von Spannstahl, Kunststoffgewebe und Carbon so stabil machte, daß ein anderer bekannter Märchenwolf selbst mit Monsterturbinenlungen chancenlos wäre (und andererseits nicht fürchten müßte, durch den Kamin im Kochtopf zu landen und gesotten zu werden, weil es einen Kamin in solchen Bunkern höchstens noch für die Abluft gibt).
Dazu baut er sich Werkzeuge, um Nägel, Schrauben und Haken in Wände und Decken zu donnern, Löcher in Mauern zu sprengen, Böden aufzubrechen, Rigips, Stahl und Hartholz zu fräsen, zu schreddern und zu schmirgeln, alles mögliche zu zerschmettern und zu atomisieren, Laub, Dreck und pulverisierte Hundescheiße wolkenweise durch Straßenschluchten zu blasen. Und er montiert sich an seine Raskiste einen sogenannten „Sportauspuff“, mit dem sich ganze Stadtviertel zu Weißglut und Nervenkrebs terrorisieren und durch punktuellen Einsatz gezielt Schlaganfälle und Infarkte herbeiführen lassen, gerne beim Losbrettern an harmlosen Kleinampeln, um das Kinder- und Seniorengewürm von der Piste zu scheuchen und dem Kreuzungsnachbarn in seinem Töff klarzumachen, daß der Verzicht aufs Blinken beim Abbiegen kein Versehen ist, sondern eine röhrende Klarstellung der sozialen Rangordnung.
Wer Lärm, Gestank und anderen Radau selber nicht so gut verträgt, verlegt sich auf subtilere Methoden und überzieht den ungeliebten Beiwohner mit jahrzehntelangen, millionenteuren Gerichtsverfahren wegen Millimetern,Fake NewsMikrodezibeln, Sekunden, Pfennigbruchteilen, Unterunterunterparagraphen und Affären aus der vorletzten Nachkriegszeit, wechselt Schlösser, verhängt Fenster, schraubt Nischen zu, verstreut Scherben, sägt Rohre an, vergiftet Bäume, Blumen und Hausgetier, gießt Wasser aus Fenstern, ruft die Polizei vorbei und scheißt notfalls in die Dachrinne. Stachel-, NATO- und Elektrodraht sind eher ländliche Varianten, weil sie in der städtischen Enge gerne mal zur Selbstverstümmelung führen.
Warum der Mensch das tut, ist und bleibt wahrscheinlich für alle Zeiten ungeklärt. Weshalb der Deutsche ganz besonders anfällig dafür ist, ebenfalls. Möglicherweise deshalb aber fürchtet er den Wolf, der angeblich in ihm lauert und in der nachbarschaftlichen Tobsucht derart artungerecht hervorbricht, ganz besonders: weil er unter- oder unbewußt weiß, daß er am meisten Angst vor sich selber haben sollte. Der Wolf gibt ihm die Chance, sich gewissensrein zu wähnen: schließlich kommt der nicht aus seinem verkorksten Seelenpfuhl heraus, sondern aus dem tiefen, dunklen Wald. Und der liegt nun mal im Osten.
Bekanntermaßen hat Thomas Hobbes den Wolf, der der Mensch dem Menschen ist, ausdrücklich nicht aufs Private bezogen, sondern auf die zwischenstaatliche Gewalthuberei, bei der der nationalkollektivierte Mensch „Gerechtigkeit, Liebe und alle Tugenden des Friedens der Ähnlichkeit mit Gott“ über Bord wirft und „selbst die Guten bei der Verdorbenheit der Schlechten ihres Schutzes wegen die kriegerischen Tugenden, die Gewalt und die List, d. h. die Raubsucht der wilden Tiere, zu Hilfe nehmen“ müssen.
Möglicherweise hatte Herr Hobbes keine Nachbarn und ließ sich deshalb zu einer solchen Verklärung der gemeinschaftlichen Innenverhältnisse hinreißen.
Wahr bleibt indes seine zweite Annahme, was das automatisch böswölfische Gehabe von Staaten untereinander betrifft. Das zeigt sich derzeit in der von mächtigen Instanzen und ihren Medien herbeigeplapperten Debatte über einen „Cyberkrieg“, mit dem angeblich das durch zielstrebige Erweiterung der NATO plötzlich zum Nachbarn gewordene Rußland den Westen in die Knie zwingen möchte, durch „Fake News“ und Hacking. Weshalb man sich, wie der „Bundessicherheitsrat“ feststellt, unbedingt verteidigen müsse.
Das klingt – abgesehen von der Frage, wo diese gespenstischen Wogen von „Fake News“ denn nun bleiben, ob sie im Manipulationsozean der deutschen Medien überhaupt auffielen und wer solche Kampagnen zu welchem Zweck aufschäumt – zunächst logisch. Wenn einem jemand einen üblen Virus auf die Festplatte pumpt, ist es vorteilhaft, selbigen durch Abfangen oder Löschen unschädlich machen zu können.
Der staatsdeutsche Wolf möchte aber, der archaischen Kriegslogik treu unterworfen, mehr. Nämlich durch „Backhacking“ wiederum dem Übeltäter selbst einen Virus auf die Platte pumpen, gegen den der sich dann wieder schützen muß, indem er einen noch übleren Virus zurückschießt. Und so weiter; wir kennen das aus dem alten Kalten Krieg: Haust du mir eine Bombe drauf, hau ich dir zwei drauf, und im Zweifelsfall haue ich dir die zwei Bomben drauf, bevor du mir deine Bombe draufhauen kannst.
Nun ist es leider so, daß man bei derartigen „Cyberangriffen“ nie weiß, von wem sie wirklich kommen. Möglicherweise entpuppt sich der böse Russe bei genauerem Hinsehen (auch Verschwörungstheoretisiererei genannt) als neurotischer Nerd im tiefen Schwarzwald, der für seine Hackereien unter Umständen den Server einer Notfallklinik nutzt. Im Vorwärtsverteidigungsfall müßte man also entweder die Klinik logistisch in Klump und Asche backhacken oder den Russen gleich so massiv mit Viren vollpumpen, daß er gar nicht mehr dazu kommt, mit „Fake News“ und Verschwörungstheorien seine Unschuld zu behaupten.
So oder so: wünscht man sich dann doch endlich einen gütigen Jäger herbei, der irgendwo Steine hineinfüllt und mit Kuchen und Wein nach Osten aufbricht, um dem vermeintlichen lauernden Raubtier klarzumachen, daß man das ganze Theater als Privatmensch hier wie dort nicht böse meint und daß man sich doch irgendwann irgendwie zusammentun könnte, um dem Hobbeschen Staatenwolf und seiner Raubkriegssucht endlich Halsband und Leine anzulegen.
Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.