Frisch gepreßt #387: Dr. Will „Addicted To Trouble“

Wenn man bei Google „Dr. Will“ eingibt, erhält man ungefähr 1,23 Milliarden Treffer, darunter gefühlte 25 Frauen- und Zahnärzte aus oder vielmehr in München. Da fällt der unscheinbare Eintrag auf Platz eins gar nicht so auf: „Dr. Will – München“; na ja, noch so ein Genitalklempner oder Fotzenspengler, denkt man und erschrickt vor sich selbst: Huch, meine Dauerwelle! Was ist denn das für eine Denk- und Ausdrucksweise!

Kommt vielleicht von der Beschallung: Wer zwei ganze Tage damit verbringt, sich von Candelilla die Auffassungsgabe und das emotionale Grundgerüst so umfassend renovieren zu lassen, daß danach die Slits wie Macho-Glampunk klingen, und dann das neue (oder wahlweise auch ein älteres) Album von Dr. Will auflegt, dem kann es die Contenance verhauen, selbst als frühlingsfrisch verliebter Romantophiliker mit nagelneuem Bremsgummi auf der Saukramnabe. Oder, um im Kontext zu bleiben, als „Dapper Dude“ mit Oberlippengangsterbart und welker Nelke im Knopfloch.

Dr. Will vorzustellen ist zumindest in München und Umgebung inzwischen nicht mehr nötig – an ausgewählten Orten im weiteren Umland übrigens auch nicht: Er trumpfte mit Eddie Bo in New Orleans, konferierte mit Willy de Ville und Louisiana Red, besuchte die Spider Murphy Gang auf der Circus-Krone-Bühne, bereiste legendäre Konzertstätten wie das Amsterdamer Paradiso, das Bluesfestival im französischen Tournon, gastierte zwischen Berlin, London und der tiefen Schweiz in so ziemlich jedem wichtigeren Etablissement, wo man das tun darf und schätzt, was derzeit wahrscheinlich weltweit niemand so perfekt hinkriegt wie er: knalligen, krachigen, röhrenden und schmetternden New-Orleans-Blues mit handgehobelten Riffbrettern, einem Schlagzeug, das das Dachgeschoß ins Wanken bringt, und einer Stimme, an der Generationen von Whiskybrennern akribisch und getreu den Richtlinien ihres Handwerks gefeilt und gemeißelt haben.

Apropos Handwerk: Puristen mögen einwenden, es handle sich bei dem ganzen Fetztheater vom ersten Songtitel bis zum letzten ekstatischen Schrei der saloongemäß hochherzig bekleideten Begleitmiezen um eine Pastiche und nicht „the real thing“. Dem wenden wir entgegen, daß gute neunzig Prozent der Musik, die heutigentags in klassischen Konzertsälen, auf maskeradisch-nostalgischen Tanzfeten, Hip-Hop-Battles, Metal-Festivitäten, Schlagerkränzchen und im superhippen Indieclub dargeboten wird, das gleiche mit anderem Genre-Badge sind: mal Anknüpfung, mal Huldigung, mal Aufwärmung von Phänomenen vergangener Epochen, von denen nicht mal sicher ist, ob sie nicht von Anfang an mehr Aufzug als unmittelbarer Urschrei bewegter Seelen bzw. Aufgriff authentischer Zeitgeistströmungen waren. Im Grunde ist selbst der Purist, der solcherart nebenberuflich prangert, ein Abziehbild von Vorgängern, die dies ehedem und schon immer taten. Also: wurst.

Nicht absprechen kann man dem Mann, der Dr. Will verkörpert und ist, seine persönliche Authentizität: Die Münchner Szene kennt ihn seit den frühen 80ern als bombigen Schlagzeuger diverser immer nur halbberühmter, aber teillegendärer Bands, und das, was er als Sänger und Bluesfigur kann und überzeugend auf die Bühne schwitzt, hat er nicht in irgendeiner windigen Akademie für Populärunterhaltung gelernt, sondern da, wo Schmutz und Glanz original sind, bei längeren Aufenthalten u. a. in London und New Orleans und in der Begegnung und Interaktion mit eben jenen Gestalten, die ihm der Purist nun vorhält. Freilich mag sich der eine oder andere wünschen, er möge die Vehemenz und Energie eines Tages in Songs gießen, in denen er unverstellt direkt, im Heimatdialekt und mit seinem unnachahmlich brachialen Witz von seinem „wahren“, richtigen Leben erzählt.

Aber wer weiß denn schon, was das wahre Leben ist. Wer weiß denn noch, daß das Motto einer seiner früheren Bands „Lieber hart als richtig“ lautete. Wer weiß denn, ob er das nicht irgendwann sowieso tut. Und bis dahin ist es gut, wahr und richtig, daß er das tut, was er tut und was niemand so perfekt hinkriegt wie er.

Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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