Belästigungen 08/2017: Wer weiß denn schon, wo der Marienplatz anfängt? (eine lehrreiche Anekdote)

„Hier versenkt die Stadt 72 Millionen!“ plärrte neulich eine Zeitung in selbige Münchner Stadt hinein. Wo? Das war nicht zu erkennen, ohne die Zeitung zu öffnen (was ich grundsätzlich unterlasse). Abgebildet war lediglich eine ehemalige, durch eine „Investition“ verschandelte Landschaft, die überall liegen könnte. Ist also: wurst.

Ist auch keine Sensation; schließlich sind Städte dafür bekannt, daß sie nach Belieben Orte und Gegenden finden, wo sich mal eben 72 Millionen versenken lassen. Korruption, Inkompetenz und Dummheit der kommunalen Politik schwingen sich stets zu titanischen Höhen auf, wenn es um „Investitionen“, also um das Versenken von Millionen durch Verwüstung von Landschaften und Zerstörung von Idyllen mittels Einbringung von Beton und Stahl geht. Andererseits sind 72 Millionen auch kein Pappenstiel. Die muß man (zumindest theoretisch) erst mal haben, um sie versenken und damit den Fortschritt vorantreiben zu können.

Und haben heißt: eintreiben. Da denkt man zunächst an Steuern. Aber die, die auf nutzlosen Geldbergen sitzen und bei denen sich locker nebenbei 72 Millionen eintreiben ließen, sind dieselben, in deren Taschen das Geld landet, das für „Investitionen“ versenkt wird. Da wäre es ja ein Schmarrn (oder neudeutsch: ein Nullsummenspiel), ihnen das Geld erst wegzunehmen und dann wieder zurückzugeben.

Eine weitere prima Geldquelle sind Bußgelder und Strafen. Weil man jedoch die, die viel Schlimmes tun und anrichten (wofür man nicht gleich ins Gefängnis muß), nur dann bußzahlen lassen kann, wenn es bei ihren Schandtaten nicht um „Investitionen“ geht, und es sich bei praktisch jeder dieser Schandtaten um eine „Investition“ handelt (und umgekehrt) und das Geld auch in diesem Fall wieder bei denen landen soll, denen man es zuvor wegnähme, geht da auch nichts.

So konzentriert man sich am liebsten auf den Straßenverkehr. Da, möchte man meinen, wäre auch allerhand zu büßen und zu holen: Autofahrer, die drängeln, hupen, telephonieren, Wege abschneiden, lärmen, blockieren, ihren Blinker ignorieren, gewohnheitsmäßig bei Rot „noch schnell“ durchrasen („So bald wird die Fußgängerampel schon nicht umschalten!“) und als friedlichste Variante die Rüssel und Ärsche ihrer grimmig dreinstarrenden Monsterboliden beim sogenannten „Querparken“ so weit in den Bürgersteig hineinhängen, daß die Gentrifizierungsbruthennen mit ihren Kinder-SUVs garantiert nicht und der Rest der Bevölkerung auch nur unter gymnastischen Verrenkungen daran vorbeikommt – lauter blöde, ärgerliche, störende, nervige, böse und regelmäßig tödliche Verstöße gegen das Gebot, seinen Mitmenschen nichts anzutun.

Allerdings ist, wie wir alle wissen, im Krieg und im Autoverkehr (die sich grundsätzlich nur unwesentlich unterscheiden) so gut wie alles erlaubt (zumindest praktisch), weil der Autoverkehr und die ihn befeuernde Industrie die Grundlage einer Wachstums- und Leistungsgesellschaft sind. Außerdem, so hören wir immer wieder, gibt es gar nicht genug Personal, um alles zu ahnden, was Autofahrer im Alltag so anrichten.

Zum Glück gibt es Radfahrer. Die sind leicht zu stoppen, meist harm- und hilflos und vom pausenlosen Bemühen, der Tötung durch Autofahrer zu entgehen, so entkräftet und eingeschüchtert, daß sie sich widerstandslos schröpfen lassen. Dafür gibt es dann übrigens plötzlich Personal.

So ist es mir neulich so ergangen, daß ich aus dem Münchner Süden nach Schwabing radeln wollte, was man am besten den Rindermarkt entlang tut. Nun weiß man als Münchner, daß selbiger neuerdings ein Stück weit gesperrt ist und nicht befahren werden darf. Dafür gibt es schließlich einen Randstein, an dem der Fußgängerbereich beginnt. Da steigt man ab, was ich auch tat – und im selben Moment eine rote Kelle vor dem Gesicht hatte, wie ich sie zuletzt am Tag meiner Einschulung im Zusammenhang mit einem gewissen Pamfi gesehen hatte, und den Spruch „Wissen Sie, weshalb ich sie aufgehalten habe!“ gesagt bekam.

Das wußte ich nicht. Man erläuterte es mir: Gefahren werden dürfe zwar auf der Straße, aber nur bis zu einem nicht erkennbaren Punkt etwa zwanzig Meter vor dem Beginn des Fußgängerbereichs, weshalb dort ein Schild stehe, an dem vorbei weiterzufahren fünfzehn Euro koste, die ich bar bezahlen oder überweisen könne. Diese Belustigung erfuhr ich umkreist von dreizehn (!) Uniformierten der „Verkehrsüberwachung München“, die allesamt gravitätisch nickten und sodann stückweise ausschwärmten, weil unmittelbar nach mir ein Radler nach dem anderen exakt dasselbe Vergehen beging.

Das Schild wollte ich dann doch sehen. Leider stehen in diesem Bereich des Rindermarkts (wie in der Stadt überhaupt) so viele Schilder herum, daß ich es erst nach langem Suchen fand. Oder gefunden zu haben glaube. Das Schild war etwa so groß wie eine hochkant gestellte Schultafel, zeigte ganz oben einen roten Kreis und darunter eine knappe Belehrung – knapp genug, um sie im Vorbeiradeln inmitten des Gehämmers sonstiger schriftlicher Botschaften aus allen Richtungen (Reklame! „Bild“! Hundert weitere Schilder!) sofort zu begreifen. Da stand geschrieben: „Durchfahrt Marienplatz (rot:) gesperrt / Lieferverkehr bis 7,5 t zulässiges Gesamtgewicht frei von Sonntag 22:30 h bis Samstag 12:45 h täglich von 22:30 h bis 12:45 h an Feiertagen ab (unleserlich, weil ein angekettetes Moutainbike davorstand)“.

Ja nun. Freilich hätte ich in Sekundenbruchteilen gewahr werden müssen, daß der Marienplatz neuerdings mitten auf dem Rindermarkt beginnt und mein Fahrrad das „zulässige Gesamtgewicht“ bei weitem überschreitet. Aber stimmt beides überhaupt? Und ist „täglich von 22:30 h bis 12:45 h“ nicht eine reichlich blödsinnige Angabe, weil davon (außer man lebt rückwärts) zwei Tage betroffen sind? Und das soll ich im sicheren Wissen, mich auf einer Straße zu befinden, die ordnungsgemäß am Randstein endet, instantan verinnerlichen?
Nö. Ich begab mich zurück zu der mich behandelnden Beamtin (die wahrscheinlich nur eine bemitleidenswerte Billiglohnsklavin war) und erklärte ihr, es handle sich hierbei um vorsätzliche Verwirrung und Wegelagerei in Tateinheit mit Falschinformation. Sie indes meinte, wo der Marienplatz beginne, falle nicht in ihren Zuständigkeitsbereich und es gebe „ganz unten“ noch ein Schild, das die Fahrradbenutzungserlaubniszeiten angebe, die sich auf die Nacht beschränkten. Das wollte ich sehen, und sie wollte es mir zeigen.

Ging aber nicht, weil vor dem Zusatzschild jemand neben das angekettete Mountainbike Holzpaletten gestapelt hatte, so daß man nur mit detektivischer Mühe „21“ und ein halbes symbolisches Fahrrad erkennen konnte. Das sei egal, sagte die Dame, ein Verbot gelte in Deutschland auch dann, wenn niemand davon wissen und erfahren könne.

Das wiederum fand ich eine so geile und originelle Rechtfertigung für offensichtlichen Betrug, daß ich ihr spontan verzieh, mein Eintrittsgeld für das kabarettistische Straßentheater gut angelegt wußte und ihr am liebsten geraten hätte, ein Bühnenprogramm aus ihrer Nummer zu machen. Leider hatte sie keine Zeit mehr, schließlich kamen da schon wieder zehn Radler angeschnauft, die beraubt werden mußten.

Ach, vielleicht hätte ich ihr lieber vorschlagen sollen, den dummen „Überweisungsträger“ zu zerreißen und statt dessen zweihundert Euro von meinem Konto abzuheben und uns auf eine exzessive Biergartentour zu begeben. Schließlich wäre das Geld da mit Sicherheit genußbringender und gesamtgesellschaftlich förderlicher versenkt gewesen als in irgendeiner „Investition“.

Aber wen interessiert in einer Leistungsgesellschaftsgroßstadt schon, was genußbringend und förderlich ist?

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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