Frisch gepreßt #386: Dear Reader „Day Fever“

Das letzte Lied ist immer das schönste. Das gilt freilich nicht für jedes Album. Es galt im seligen LP-Zeitalter, als die Popmusik neu, stürmisch und horizonterweiternd war, zumindest für viele Platten, auf denen nach dem vierten Stück auf Seite zwei scheinbar alles gesagt war und man sich abschließend noch dem wesentlichen widmen konnte.

Aber es gilt für jeden Abend. Wenn das Geknalle, Gerappe, Gerocke und Gerumpel verklungen ist und der Kopf mit leichtem Schwurbelschwindel die Dinge neu ordnet oder das zumindest versucht, wenn der Zapfhahn die letzten Gläser füllt, die letzten Gäste dem ersehnten Aschenbecher huldigen, die Gespräche in ungefähres Gemurmel und in stummem Zusammenklang dahinfließende Wirbelwurlgedanken münden, bis man endlich immer mehr und nur noch schweigt – dann schlägt die Stunde der letzten Lieder, von denen sich manch ein Liebhaber solch tiefblau vernebelter Nachtzeiträume wünscht, es gäbe jemanden, der nur sie schriebe und spielte.

Gibt es, und es ist ausnahmsweise mal nicht Frank Sinatra, der zeitweise in the wee small hours solche Anwandlungen hatte, denen aber stets ein schwerer Saum von verliebtem Unglück, unglücklicher Verliebtheit, verlorener Leere, leerer Verlorenheit und gesamtheitlicher Vergeblichkeit sowie ähnlichen Geweben angenäht war, in dem man sich verfangen und verwickeln und dann hinabsinken konnte in den Sumpf des Noch- oder Nichtmehrganzdaseins. Es ist auch nicht Tom Waits, der noch intensiveren Sog entfachte und hämisch keckernd auf die Welt den Sargdeckel draufschmiß. Bei Cherilyn MacNeil ist die Sache umgekehrt: Da öffnet sich das Herz nach oben und lernt fliegen, und das Dunkel wird licht.

Ihre Songs sind meist sehr einfach, leicht und simpel: ein paar Töne, hingetupft wie Wölkchen und Glitzerschimmer auf Gemälden von Bob Ross, nicht immer gänzlich kitschfrei, aber wohlig, rund und klein. Dann aber staffiert sie die anmutigen Skelette aus mit Klängen, Chören, Stimmen, bis beschauliche Kunstwerkchen daraus werden, schillernd in vielen Farben und Formen. Die jedoch glücklicherweise immer da enden, wo es – zum an den Haarspitzen herbeigezogenen Beispiel – bei Kate Bush losgeht mit Brimborium und Popanzschwere. So gehen sie, die letzten Lieder.

Wer mag, kann genauer zuhören und sich was erzählen lassen von Cherilyns abenteuerlichem Leben: Angefangen hat sie ihr Projekt einst in Südafrika, in einem Vorort von Johannesburg, unter dem Namen Harris Tweed, erntete Preise und Erfolge und eine Klagedrohung der Harris Tweed Authority, die streng über Ruf und Geschick des schottischen Traditionsgewebes wacht. Drum hieß und heißt sie fortan und jetzt Dear Reader, zog 2010 ohne ihren vormaligen Begleiter Darryl Torr ans ganz andere Ende der Welt, nach Berlin, und tat sich mit den unterschiedlichsten Musikern zusammen, von denen jeder dies und das in den Topf warf, in dem sie ihre Klanggebilde köcheln ließ.

Sie nahm ein Album in Leipzig und Portland (Oregon) auf, ein weiteres ganz allein in ihrem Berliner Einzimmerapartment, eines live mit dem Filmorchester Babelsberg, und nun ist sie in San Francisco gelandet, bei John Vanderslice, in dessen Tiny-Telephone-Studio es keine Computer und Digitalgerätschaften gibt, sondern nur ein Tonband, das sie mit ein paar neuen Freunden aus der Gegend bespielte. Sparsam, vorsichtig, gerade dicht genug, daß die Songs schimmern, leuchten und schweben können.

Wie gesagt: wer mag. In den dehnbaren, sich dehnenden Stunden zwischen Nacht und Morgen, zwischen Traum und Wirklichkeit, da braucht es die Geschichten und Bilder in den Texten eigentlich gar nicht. Da genügt es, die Musik mit leichtem Schwurbelschwindel in die Seele fließen zu lassen, Wirbelwurlgedanken sich winden und ranken zu lassen, das letzte Glas zu betrachten und mitzuschimmern, mitzuleuchten, mitzuschweben.

Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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