Belästigungen 07/2017: Guten Tag, Herr Regenschirm! Hätten Sie gerne eine Welt?

Ich kann mich an mein erstes Matchbox-Auto erinnern (Rolls Royce Phantom V). Ich kann mich an meine erste eigene Single erinnern (The Beatles, „Get Back“), die erste LP („Beggars Banquet“), an meinen ersten Schultag („Schau links, schau rechts, schau gradeaus, dann kommst du sicher gut nach Haus“), den ersten Füller (Pelikan), den ersten Banknachbarn („Mein Name ist Oliver, wollen wir Freunde sein?“), an meinen ersten Kuß (schwarzer Lippenstift in Benediktbeuern!), das erste Radl (mit Stützrädern und Spielkartenmotor).

Ich weiß noch, wie meine erste abonnierte Zeitschrift hieß („Teddy – Lesen und spielend lernen“), meine erste Freundin (wird nicht verraten), auf welcher Linie ich das erste Mal Trambahn gefahren bin (1, passenderweise), welches Thema in meiner ersten Unterrichtsstunde im Gymnasium behandelt wurde
(Schulstrafen), wofür ich meinen ersten Verweis bekam (einen Schubser im Turnunterricht), wie mein erstes „richtiges“ Fußballspiel ausging (1:9 gegen Neuperlach), wie die erste Band hieß, die ich auf einer Bühne sah (Subject Esq.).

Aber komischerweise habe ich keinerlei Erinnerung an meinen ersten Regenschirm. Um ehrlich zu sein und etwas weiter auszuholen: Ich kann mich so richtig an überhaupt keinen Regenschirm erinnern, zumindest an keinen eigenen (an einen fremden schon: Der gehörte einem Buben im Hort, war aus durchsichtigem Plastik und so cool, daß ich ihn vor Neid kaputtmachen mußte). Ist es möglich, daß ich mir noch nie einen Regenschirm gekauft habe?

Das ist sehr gut möglich. Regenschirme sind eigensinnige Weltbewohner, die es nie längere Zeit an einem Ort hält. Man findet sie kaum in Privaträumen (Ausnahmen wie der Schirm, der Spitzwegs „Armen Poeten“ davor schützt, vom undichten Dach durchnäßt zu werden, bestätigen die Regel und wirken gerade deshalb kurios); gerne beziehen sie vorübergehend Quartier in Begegnungsstätten wie Kneipen, am liebsten aber sind sie unterwegs. Wenn ein Tram-, S-, Eisenbahn- oder sonstiger Zug ohne einen einzigen Regenschirm als Passagier durch die Gegend fährt, hat es mit Sicherheit seit Wochen nicht geregnet und wird dies auch noch wochenlang nicht tun.
Da ähnelt der Schirm dem Menschen, dessen Entwicklung zum Kulturwesen einst damit begann, daß er seßhaft wurde und – eben – die Gegend um sich herum kultivierte. Im Lauf der Zeit erblühten solcherart Anwesen, Dörfer, Städte und Ballungszentren, bis der Mensch eines Tages beschloß, es sei nun wieder genug mit der Kultur und es müsse etwas Neues her.

Fortan wurde nicht mehr gehegt und gepflegt, sondern weiterentwickelt; schließlich lehrte die Lehre von der Evolution, daß nichts, was es gibt, vollkommen oder auch nur vollständig ist, sondern immer lediglich ein Zwischenschritt, eine Haltestelle sozusagen, durch die der rasende Schnellzug der Entwicklung jedoch ohne anzuhalten hindurchbraust, bis er endlich … nein, ein Ende gibt es nicht, alles strebt ewig weiter nach vorn und oben.
Logisch, daß es auch mit der Seßhaftigkeit bald vorbei war. Stillstand, lehrte man nun in den Unterrichtungsanstalten, sei der absolute Horror, es müsse sich etwas und am besten alles bewegen, und zwar fort. Fortschritt und Fortbewegung wurden die hehren Ideale einer neuen Ideologie, die dem Menschen nicht mehr erlaubte, sich hinzusetzen und wohlzufühlen. Vielmehr wurde er mobilisiert und dynamisiert, und statt Kirchen, Burgen, Palästen und andere für die Ewigkeit gedachte Wohnstätten für Körper und Geister baute man nun Autos, Bahnen, Flugzeuge, Raketen, mit denen man alles mögliche konnte, aber auf keinen Fall: bleiben. „Indem man den Prozeß des Werdens betonte“, schrieb der Philosoph Jürgen Dahl, „kam der Sinn für das Gewordene zu einem Teil abhanden.“ Selbst sogenannte Konservative interessierte irgendwann nur noch, „was hinten rauskommt“ (H. Kohl) und nicht mehr das Gewordene, das sie vorne reinsteckten in die Fortschrittsmaschine, als die sie den Planeten betrachteten.

Im Zuge dieser Umwälzungen kamen – bezeichnenderweise etwa zur gleichen Zeit wie Dampfmaschine und Eisenbahn – die Regenschirme in die Welt, die es zwar schon länger gab, die aber bis dahin niemand so recht mochte, weil sie als „französisch“ und weibisch galten und wahrscheinlich wegen ihrer Unstetigkeit und mangelnden Treue inbesondere der relativ lange und stur seßhaften Landbevölkerung unheimlich waren. Nun setzten sie sich durch, milliardenfach, und bevölkerten die Welt bald ebenso dicht wie der neue Typ Mensch, der Homo promovens, der den Homo sapiens abgelöst hat und unablässig damit beschäftigt ist, sich fortzubewegen und fortzuschreiten, im täglichen Existieren und Wirtschaften wie im weltgeschichtlichen Entwicklungsprozeß, der nie enden und nie zum Stillstand kommen darf.

Seltsame Vorstellung: daß eines nicht so fernen Tages, wenn der Mensch die Erde für sich selbst unbewohnbar gemacht hat und ausgestorben ist, noch eine ganze Zeit lang vollautomatische Autos, Züge, Schiffe und Flugzeuge durch die Gegend eilen werden, in denen ausschließlich Regenschirme herumstehen und -liegen (und ein paar Fliegen brummseln und Käfer krabbeln), unbekannten Zwischenstationen entgegeneilen und sich möglicherweise im stillen wünschen, es möge doch mal eine Evolution anbrechen und sie befähigen, irgendwo auszusteigen, sich ein bißchen umzuschauen, möglicherweise seßhaft zu werden und eine Kultur einzuleiten.
Wie ich auf einen solchen Schmarrn komme? Auch daran kann ich mich erinnern: weil mein letzter Regenschirm gerade nach Karlsruhe eingefahren ist und ich, vor dem Bahnhof stehend, mich kurz und nebenbei frage, wo er wohl als nächstes hinreist, ohne mich.

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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