Das Berufsbild des Propheten wird gerne mißverstanden. Nicht etwa maßt sich dieser an, vorauszusagen, wie das Wetter im März wird, wer irgendeine Wahl gewinnt oder wann der TSV 1860 mal wieder mehr als drei Punkte in fünf Spielen einfahren wird. Vielmehr ist der Prophet ein Weissager, also einer, der durch umfassende Kenntnis der Weltläufte qualifiziert ist, seinen Mitmenschen mitzuteilen, wie die Welt so läuft, im allgemeinen und im besonderen. Daher möglicherweise auch wie es weitergehen wird, weil ja das meiste immer so weitergeht, was als Zukunftsdeutung aber nur jenen erscheinen mag, die gar nicht recht wissen, was insgesamt los ist.
Dazu braucht es Geschichten, in denen sich solche Weisheit niederschlägt, ausdrückt und vermittelt. Die Bibel beispielsweise ist ein Kompendum solcher Geschichten, ebenso wie die gesammelten Werke von William Shakespeare; es gibt aber auch moderne Pendants, etwa das neue Album oder überhaupt alle Alben von Chuck Prophet, vor allem aber das neue und vierzehnte, auf dem er selbst als handelnde Person so gut wie nicht mehr auftritt, sondern tatsächlich zum Propheten geworden ist, der der Welt den Spiegel vorhält – so abgedroschen das klingen mag.
Freilich ist „abgedroschen“ ja auch so ein Wort, das man gerne mißversteht. Nämlich zeichnet es den guten Drescher aus, daß er sein Getreide so drischt, daß am Ende Spreu und Korn wirklich getrennt sind, und dazu braucht es Geschick und Zeit. Die Feststellung, daß man beim Hören dieser Songs mehr als nur das Gefühl hat, alle dreizehn schon mal (oder hundertmal) gehört zu haben, sagt noch nichts über deren Qualität, sondern nur über ihre Form: klassischer US-amerikanischer Folkrock ’n‘ Roll mit ein paar Ausreißern, die ebenso bewußt gewählt und umgesetzt sind – etwa „In The Mausoleum“, das nicht zufällig „Ghostrider“ von Suicide zitiert und imitiert, sondern weil es dessen (Mit-)Schöpfer, der im Juli 2016 verstorbenen US-Rock-’n‘-Roll-Ikone Alan Vega, gewidmet ist, um von ihm zu erzählen, weil man von Menschen erzählen muß, die keiner kennt, aber jeder kennen sollte. Weil ihre Geschichten das Kompendium des Propheten füllen.
So wie die von Bobby Fuller, noch so einem streunenden Gespenst der US-Rockgeschichte, dessen „I Fought The Law“ selbst dem tumbsten Green-Day-Fan geläufig ist, von dem man aber bis heute nicht weiß, wie es kam, daß er mit 23 fast auf den Tag genau fünfzig Jahre vor Vega tot im Auto seiner Mutter saß – ermordet von Drogendealern, Bandkollegen, vom eifersüchtigen Stecher seiner angeblichen Flamme Melody (oder Melanie) angeheuerten Schlägern? Oder starb er von eigener Hand, desillusioniert wegen der Trennung seiner Band in der Nacht zuvor?
Wie auch immer – sein Name steht (oder sollte stehen) für die Kraft und Macht billiger Straßenmusik, an die auch Chuck Prophet sein Leben lang glaubt und die er hier (na klar: analog und ziemlich live mit vielen Saiten, Trommelfellen und Becken) mit seiner Band (Freundin Stephanie Finch an den Tasten, James DeFrato an der zweiten Gitarre, Bassist Kevin White und Schlagzeuger Vicente Rodriguez) so euphorisch und wehmütig umsetzt, wie sich das bei dieser Art Musik gehört, ohne schwachen Moment, überflüssigen Akkord, gewagte Synkope.
Man mag einwenden, daß nicht jede der Geschichten jedem etwas mitzuteilen hat, daß das Lamento „Bad Year For Rock And Roll“ arg berechenbar, die Hymne für den 2014 von der Polizei von San Francisco mit 59 Schüssen ermordeten Alex Nieto etwas plakativ, „Jesus Was A Social Drinker“ leicht albern, „Open Up Your Heart“ sehr austauschbar und „If I Was Connie Britton“ ein wenig peinlich ist. Aber die Musik ist durchgehend mindestens verläßlich, liebenswert, stellenweise mitreißend bzw. herzerwärmend. Zudem: ist halt nicht alles für jeden, und schließlich gilt das ja für das Leben und die Welt insgesamt (womit wir wieder am Anfang wären).
Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.