Belästigungen 04/2017: Vom Unterschied zwischen Kunst und Haus, Mensch und Schaf, Architektur und Verbrechen

Der Unterschied oder die Grenze zwischen Architektur und Verbrechen ist nicht immer leicht zu erkennen. Manchmal aber doch. In München kann man dazu zum Beispiel in nördlichen Stadtgegenden herumradeln, wo derzeit (wie fast immer) alte „Sozialbauten“ durch neue ersetzt werden, weil man das halt hin und wieder machen muß, um den galoppierenden Zeitgeist korrekt widerzuspiegeln.

Da stellt man sich dann am besten auf eine Straße, läßt den Blick nach links und rechts schweifen und stellt fest: Aha, hier in der demütigen Bescheidenheit und Protzlosigkeit einer Zeit, die den letzten Krieg noch in den Knochen hatte, fast idyllisch, dort im Furor des Hinstürmens auf den nächsten Krieg kriminell. Auf der einen Seite also Häuser, recht alt und einfallslos, aber von der Form her (wie man heute sagt) „stimmig“, auf der anderen das monströse Äquivalent von Folterwerkzeugen einer außerirdischen Macht, die die Menschheit brechen, unterjochen und zerstören will, gleichzeitig konkret bis in die scharfen, noch im kleinsten Detail fehlerlos exakten Kanten von Plastikbeton, Sicherheitsglas und Aluminium – und mysteriös in der horrenden Formgebung, die den Betrachter noch Tage später in Alpträumen plagt.

Da fragt man sich vielleicht zuerst, wie so etwas zustandekommen kann, aber die Antwort liegt nahe: Wer prominent, teuer und wichtig werden will, muß auffallen, am besten durch die Produkte seines Schaffens, in diesem Fall des Aufstellens von Dingen am Straßenrand. Wer hingegen ein Haus baut, das aussieht wie ein Haus und sich womöglich noch fast unauffällig in die Umgebung einfügt, ohne Staunen, Angst und Zorn zu erregen, der kann das eigentlich auch gleich bleiben lassen, weil man so was höchstens belächelt oder bewohnt, aber keinesfalls diskutiert und umstreitet.

Andere Motive kommen hinzu. So versteht man etwa Adolf Loos und seine Kritik an der „barbarischen Verquickung von Kunstwerken und Gebrauchsgegenständen“ selbst nach hundert Jahren immer noch am liebsten falsch oder gar nicht und glaubt, sie als schlagendes Argument gegen Schlichtheit und Schönheit heranziehen zu können, wo doch genau das Gegenteil gemeint ist: „Das Haus hat allen zu gefallen. Zum Unterschiede zum Kunstwerk, das niemandem zu gefallen hat“, schrieb der bisweilen wirre, aber nicht dumme Herr Loos, und: „Das Kunstwerk will die Menschen aus ihrer Bequemlichkeit reißen. Das Haus hat der Bequemlichkeit zu dienen. Das Kunstwerk ist revolutionär, das Haus konservativ.“

So gesehen stellt man (nicht nur) München seit Jahrzehnten mit vermeintlichen Kunstwerken voll, die den Menschen aus seiner Bequemlichkeit reißen, die ihn anbrüllen und provozieren, an denen er sich reibt, stößt, in denen er herumirrt und stolpert, sich Ellbogen und Stirn blutig schlägt, falsche Schalter und Hebel drückt und abbricht und aus denen er nicht nur schnellstmöglich wieder hinaus, sondern am liebsten so weit weg möchte, daß sich das Nachbild der grotesken Bizarrerie im Kopf irgendwann wieder auflöst.

Vielleicht ist das der Plan. Vielleicht lautet die Botschaft: Du bist hier nicht zu Hause! Nicht in diesem „Haus“, dieser Gegend, dieser Region, nicht auf diesem Planeten! Wir dulden dich hier möglicherweise für eine gewisse Zeit, aber nur wenn du brav bist, das Maul hältst, deine Nase nicht in Dinge hineinsteckst, die dich nichts angehen (weil du hier nicht zu Hause bist), und dich vor allem leistungsbereit zeigst! Und von vornherein darauf verzichtest, irgendwelche Ansprüche zu stellen, Wurzeln zu schlagen, über das Gebären von Leistungsnachwuchs, das Erzählen harmloser Witze und gemeinsame Bemühungen um Fitneß hinaus irgendwelche sozialen Bindungen zu knüpfen und sonstige Kapriolen zu schlagen! Dann darfst du eine zeitlang in diesem … ähem, Ding übernachten, das WLAN benutzen, dein Fertiggericht einnehmen und abends Fake News glotzen! Und dann sagen wir dir, wo du aufgrund von alternativlosen Gründen als nächstes hinmußt, um genau das gleiche zu tun!

Und so kommt es dann: Heerscharen sogenannter Studenten (die nichts studieren, sondern sich eine wirtschaftlich nutzbare Funktion antrainieren) wuseln wie panische Schafherden (in denen sich möglicherweise auch jedes Einzelschaf auf dem Pfad der individuellen Selbstverwirklichung wähnt) durch die genormten Zentren der Wirtschaftswelt und müssen in „Kunstwerken“ hausen, damit sie ja nicht heimisch werden oder gar Persönlichkeiten entwickeln. Statt dessen erlernen sie „Weltoffenheit“ („Oh, H&M gibt es auch in Buenos Aires! Wie praktisch!“). Mangels jeglicher Selbstbestätigung (von diversen „Junggesellenabschlüssen“ abgesehen) werden sie am Ende noch stolz auf Deutschland oder suchen sich andere, kaum harmlosere Charakterwichsvorlagen.

Und wenn sie ihren „Abschluß“ errungen haben und sich beispielsweise als akademische Sporteventmanagementmaster bezeichnen dürfen, geht die Odyssee nahtlos weiter, weil sich herausstellt, daß der von den Steuermännern und Profiteuren des Irrwitzes wahnhaft beschworene „Fachkräftemangel“ ähnlich wie ein Zaubernebel im Gruselfilm mal hier, mal dorthin wabert und jedem, der ihm nicht stantepede folgt, das gnädig gewährte Recht aufs vorübergehende Behausen eines „Kunstwerks“ und die Zuteilung von Fertiggerichten und Flimmerunterhaltung jederzeit entzogen werden kann.

Vielleicht sollten wir hin und wieder etwas genauer auf den Unterschied oder die Grenze zwischen Architektur und Verbrechen achten. Wo wir schon mal da sind, zufällig.

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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