Frisch gepreßt #384: Bonobo „Migration“

Die Welt riecht anders, wenn der Winter müde wird, wenn seine Wurzeln in der Welt locker werden, sich langsam auflösen in die schmutzige Mischung aus Schlamm, Kies, Restschnee, die dann unter beharrlicher Sonnenbestrahlung, umweht von milder Luft, zu Staub zerfällt, ein friedliches Schlachtfeld zurückläßt, auf dem – ist es wirklich erst Tage her – Frostkälte ihre grimmigen Waffen in Anschlag brachte, an die man sich nun kaum noch erinnert, nur in stillen Abendstunden, wenn der Winter mit der Dämmerung noch einmal die Muskeln spannt.

Dann riecht die Welt anders, frisch und alt zugleich, neu und ungewaschen, eine wilde, abenteuer- und phantasieträchtige Laborküche aus Altem und Neuem, in der man nichts so gut kann wie schweben. In der man schwebt und die Gedanken aus der Banalität verheißungsvollen Schimmer schöpfen. „Das Leben“, sagt ein solcherart inspirierter Semiphilosoph, „hat Höhen und Tiefen, laute und stille Momente, schöne und häßliche. Musik ist die Reflektion des Lebens.“ Und man lauscht ihm, nickt verständig.

Er heißt Simon Green, aber nennen wir ihn Bonobo, auch wenn man dabei im linden Duft der Frühlingsluft im freien Schweben der Phantasie kurz an einen schlimmen irischen Heulsänger denken mag. Die Assoziation ist vielleicht nicht ganz so schräg, denn gnädig erinnern wir uns, daß selbst und auch dessen Band in ferner Vorzeit ihre Augenblicke hatte, da es ihr gelang, Klänge zu Landschaften zu öffnen und Töne zu Bildern zu weiten.

Aber Bonobo kann das besser. Seine Musik, sein luftiges Konstrukt aus Klängen natürlicher und welträumlicher Herkunft, aus Uraltem und ganz neu elektronisch Erdachtem, bildet einen Bilderbogen, ein gesamtplanetarisches Panorama, das einem Flug mit einer hochauflösenden Kamera ähnelt, in stratosphärischer Höhe über dem Planeten, der aus dieser Entfernung divers, vielfältig, friedvoll und in schillernden Farben unter uns dahinzieht, befreit von den Teufeleien der Details und menschlicher Raserei. Es ist ein irgendwie entrückter, posthumaner Film, der sich da entfaltet: träumendes Nachtgrün in „Second Sun“, exotisch leuchtende Rätselformen in „Grains“, schwereloser Großstadtrhythmus (Sonntagnachmittag Mitte Februar) in „Outlier“, facettenweise.

Bonobos Musik zählen selbsternannte Fachleute ins Genre „Downtempo“, andere sagen „Ambient“ dazu und meinen, durchaus im klassischen Sinne von Brian Eno, weniger die Vertonung von Ambiente als dessen Schöpfung, die in so (noch einmal:) schwebender Makellosigkeit vor sich geht, daß schon eine simple Stimme wie die von Nicole Miglis (Hundred Waters) in dem sowieso etwas unentschlossen zappelnden „Surface“ störend, weil unangenehm weltlich-körperlich wirkt. Schweig, möchte man ihr zuflüstern, und schon tut sie es, und schon geht das Schweben in „Bambro Koyo Ganda“ weiter, in nordafrikanischen Schattierungen und Dialekt, der pulsenden Monotonie der Wüste, auf weichen, sanft geplusterten Wolken dann in „Kerala“. Und immer, immer, immer strahlt die Sonne in und durch diese wunderlich körperlosen Tongebilde.

Musik, könnte man Bonobo paraphrasieren, ist Bewegung und Stillstand zugleich, Ruhe und Entwicklung, geschlossener Kreis und zielloses Gleiten, ein Möbiusband der Eindrücke, frei von Botschaft und zugleich erfüllt von allen Botschaften aller Menschen aller Zeiten, die insgesamt lauten: Wir leben, und das gefällt uns.

Die Welt riecht anders, wenn der Winter endlich losläßt, die Seele vom Gewicht der Tiefe befreit, sie (ein letztes Mal:) ent-schweben läßt in nahe, unendlich nahe Fernen von Hoffnung, Erinnerung, reiner Gegenwart. In der alles, was es gibt, je gab, zerfließt zu neuer, noch kaum greifbarer Identität. Am Ende, das kein solches ist, erklingt nach dem Verklingen der letzten melancholischen Geigen der reinste Klang des Universums, zwanzig Sekunden lang: vollkommene, interstellare Stille, in der das Bewußtsein langsam erwacht und feststellt: Die Welt riecht nicht nur anders, sie ist eine andere geworden.

Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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