Das Leben eines Rockmusikers stellte man sich früher unfaßbar sagenhaft vor: So ein Mensch erwachte nachmittags zwischen seidenen Laken und nackten Leibern in der 27. Etage eines Luxushotels, mild beschienen von der Sonne über den Hügeln von Hollywood, nahm ein Champagnerbad in der Kristallglaswanne, schnupfte Diamantkoks von Silberspiegeln, ließ sich im Rolls Royce Phantom zur ausverkauften Arena fahren, riß zwei Stunden lang die Welt der träumenden Teenager aus den Angeln, strahlend im Licht der Millionen-Dollar-Lasershow, sprang wieder in den Rolls und entschwand in die Partynacht der Filmstars und Traumbodies. Hin und wieder produzierte er für Millionen Dollar in futuristischen Millionen-Dollar-Traumstudios ein neues Album, das nach endlosen Nacharbeiten endlich erschien und sofort für Jahre an die Spitze der weltweiten Charts schoß. Und zwischendurch konferierte er mit Millionen-Dollar-Hollywood-Psychiatern über seine Zerrissenheit und verschwand auch mal für ein paar Monate in einer glamourösen Entzugsklinik.
Vielleicht hat Tim Kinsella auch mal von so was geträumt; andererseits ist er erst 1974 geboren, in Chicago; da wäre immerhin denkbar, daß er einer Nacht wie der oben beschriebenen entsprang. Zumal seine Eltern offenbar keine Stubenhocker mit Privatfernsehsucht waren: „I must have been born hanging out, I must have been conceived hanging out, and I know I’ll die by hanging“, singt er in „This Must Be The Placenta“.
Jedenfalls trifft man Tim am ehesten an der Bar des Rainbo Club im Ukranian Village, wo er Getränke zapft und mischt und ab und zu auch mal Vinyl auf den Plattenspieler legt. Wozu die Details? Weil auch das Rainbo so ein Fall von Phantasie, Fantasy und Realowelt ist: kaum mehr als ein Schuppen, ein Loch in der Wand zwischen einigen recht schicken Bars und Restaurants, keine Fenster, ramponierte Holztür aus den Dreißigern, paar Bilder an den Wänden, billiges Bier. Andererseits tanzten hier schon 1936 Burlesque-Damen zu Live-Jazz, auf einer Bühne, die heute nur noch Ausstellungsfläche für bizarre Kunstobjekte ist. Hier dämmerte dazumal Nelson Algren mit Simone de Beauvior in den Rausch, hier hing die Indie-Elite der frühen 90er ab, posierte Liz Phair für ihr erstes Cover, und in der Hornby-Verfilmung „High Fidelity“ ist der Club auch zu sehen.
Sein und Schein mithin, und auch die zitierte Textzeile könnte was ganz anderes bedeuten, schließlich ist Tim für seine Liebe zu wirren Wortspielen und abseitigen Assoziationen bekannt. Wobei … bekannt? Etwas vielleicht. Vor knapp zwanzig Jahren wurde seine erste Band Cap’n Jazz mal als „Emo“-Pioniere gefeiert, drei Jahre nach ihrer Auflösung, was Tim fürchterlich ärgerte. Aber für einen Mann, der mit (ungefähr) zwanzig Bands und solo (ungefähr) fünfzig Platten gemacht hat, kennt man ihn doch nicht so recht.
Das ist ihm ganz recht. Joan of Arc gibt es jetzt seit zweiundzwanzig Jahren, und Tim meint: „Manchmal vergessen wir’s, lassen’s ein Jahr lang rumliegen, kümmern uns um unser Leben. Manchmal ziehen wir’s ein Jahr lang durch, erwachen jeden Tag überrascht und erschöpft, werden durch antike italienische Städte geführt, durch trostlose britische Fußgängerzonen, treffen barfüßige organische Bauern an der Pazifikküste. Wir wissen, was für ein Glück wir haben.“ Und dann fahren sie wieder heim. „Je weniger wir uns als Band fühlen, desto besser können wir als Band weitermachen.“
Ihre Platten sind eigenartige Getüme, immer vollkommen anders, nie vollkommen, manchmal hundert Spuren fett, manchmal fast leer, immer wackelig und bröselig, unentschieden und liebevoll bestickt mit Geräuschen und Atmosphären. „Diesmal“, sagt Tim, „haben wir einander endlich genug vertraut, um alle Songs wegzuwerfen, sogar jede Vorstellung wegzuwerfen, wer welches Instrument spielt. Wir drückten auf ‚Aufnahme‘, spielten los, und unsere gemeinsamen Geschmäcker traten zutage.“
Das Ergebnis kann man nicht beschreiben. Es ist entspannt, nervös, suchend und findend, hier und da melodisch, dort ins Gestrüpp entgleist, kaputt und warm, weich und kratzig, Keime für hundert Alben in einem. Oder, um „Grange Hex Stream“ zu zitieren: „There is no place safe, and everything is perfect.“