Frisch gepreßt #376: Van der Graaf Generator „Do Not Disturb“

Wenn man drei Wochen lang toujours das (wegen des langen Vorlaufs nach wie vor und weiterhin) neue Album von De La Soul gehört hat, ist der Bullshit-detector in einem Maß geschärft, das für musikalische Schwächlinge lebensgefährlich ist: Freilich ist der Hunger nach neuen Beats, Tracks, Songs, Texten nach wie vor da und akut, aber kaum bis nicht befriedigend, schon gar nicht gewohnt orgasmisch zu stillen, egal was man hineinschüttet in den Musikverdauungsapparat:

Skylar Grey (zwei passable Tracks), Banks (coole Lyrics, sonst wenig); das Ausweichen aufs entgegengesetzte Terrain der spätnachgeborenen Emos und Coreluschen führt höchstens zu Boston Manor (möchten gerne Attack In Black sein, haben aber keine gute Idee), dann weicht man dem vorbeiwalzenden Aufmarsch der Indieopas und -omas aus (Feeder, Deacon Blue, Pixies, Lovebugs und weitere 80/90er-Mischpoke) aus und landet bei den herbstüblichen Mischungen aus Düster und Depri (Emma Ruth Rundle: zu viele heruntergestimmte Saiten, zu wenig Herz, zu viel Sehnsucht nach Anna Calvi) und ganz neuen Männern, die ganz alte Sachen zusammengrooven (Hiss Golden Messenger: fünf Tracks lang famos, dann wird’s fad, was genauso sein könnte, wenn man das Doppelalbum von hinten laufen läßt).

Und dann, weitere zehn Platten weiter, bricht die phonographische Bulimie (nicht fragen: wie man das Zeug aus den Ohren wieder hinauskriegt, wollt ihr gar nicht wissen) schlagartig ab und verwandelt sich mit einem Blick in den rosagefiederten Wolkenwahnsinn, in den der abendliche Planet Erde oktoberlich früh hineinkippt, in Sehnsucht: nach Wahnsinn, Wahnwitz, Irrsinn, ernsthaftem, aber völlig verstiegenem Anspruch, nach einer Schönheit, die nur aus Übertreibung und Abseitigkeit erblühen kann.

Nach, kurz gesagt: ähm. Progressive Rock? Aber wann hat man das letzte Progressive-Rock-Album gehört, das allgemeinverträglich, charmant, verrückt, schön und verspielt zugleich war? das nicht zur olympisch-akademischen Rekordorgie mit verklemmt-verschränkt-athletischem Overkill zu vieler rasender Kickdrums und gehirnzerfräsender Gitarrenschreddereien, gesichtslosem Operngesang, überhabenem Pathosgeschwaufe und pickeligem Nerd-Habitus ausartete? 1974? Trübsal.

Aber ach! Es ist die Saison der flammenden Sonnenuntergänge, und unter einem solchen kommt Kamerad Peter Hammill dahergeschlendert wie der irische Vampir Cassidy in „Preacher“ (dem er in seiner coolen Spindeldürre mit seinen bald 68 Jahren immer noch ähnelt) und schmeißt das neue Album seiner Band auf den Tisch, die sich bei ihrer Gründung 1967 (!) nach einer Maschine benannte, mit der man ungeheure Spannungen erzeugen kann (wer nie Physikunterricht hatte: Da stehen selbst meterlange Metalmatten zu Berge!), und damit den passendsten Namen wählte für das vielleicht spannendste musikalische Kollektiv aller Zeiten.

Aber das wissen Eingeweihte sowieso. John Lydon, Marc Almond, Graham Coxon, Bruce Dickinson, Luca Prodan, Mark E. Smith, John Frusciante, Julian Cope (man denke sich zu jedem dieser Namen außer Cope ein Ausrufezeichen in Klammern dazu) und unzählige andere, meistenteils obskure, aber äußerst interessante Künstler haben VDGG als den oder einen ihrer wichtigsten Einflüsse, als Idole bzw. Helden genannt – unvorstellbar, wie die Popmusik der letzten vierzig Jahre ohne sie aussähe.

Gut, und weil Peter so freundlich lächelt, legen wir die neue Platte auf und finden uns schon wieder in „Preacher“, in einer Showdownszene unter flammendem Sonnenuntergang, die sich alsbald wandelt in das dringlich brodelnde, hinreißend schimmernde, feurig glühende Chaos, diesen Seiltanz aus Wollen, Können, Müssen, Versuchen, Scheitern und Gelingen, dieses brechtianisch dräuende Fegefeuer, das für Julian Cope der Grund war, VDGG aus dem gerne inhaltlich betulich bis missionarisch fließenden Prog-Rock-Kanon herauszuheben.

O ja, solche Musik mag, auch wenn z. B. der flotte, ansteckend engagierte Spätsechzigerrocksong „Forever Falling“, die kokelnd-hymnische Unterweltballade „Room 1210“ und das tiefblau bowie-eske „Almost The Words“ anfangs anderes vermuten lassen, bisweilen anstrengend sein (und es empfiehlt sich nicht, einen solchen Brocken wie „(Oh No I Must Have Said) Yes“ zum „letzten“ Glas Wein nach dem ersten Rendezvous aufzulegen – außer man hat eine S/M-Neigung, die weit über diverse Grauschattierungen hinausgeht). Aber sie ist auch, was 99,9 Prozent der ansonsten veröffentlichten Musik nicht ist: riskant, wagemutig, wahnsinnig, schön, manchmal ungeheuer schön, und spannend. So spannend, daß selbst meterlange Matten zuverlässig zu Berge stehen.

Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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