Die Erinnerung ist eine Trickdiebin: Fühlig zwitschernd gaukelt sie ihrem umgarnten Opfer Dinge vor, an die es sich vermeintlich – eben – erinnert, die als krauses Gewolke vor einem inneren Horizont erstehen und (weil wir Kinder unserer Zeit und Methoden sind) hollywoodmäßig vertont sind. Einwänden statistischer und archivalischer Natur entgegnet sie schlau lächelnd, es gebe dem zufällig vor zwei Jahren (vielleicht in diesem Sinne nicht) verstorbenen Physiker Hans-Peter Dürr zufolge weder Materie noch Energie, sondern nur etwas Verbindendes ohne materielle Grundlage, was man Geist nennen könnte. Also alles hinfällig, (gedachter) Punkt
Die Mär der Erinnerung lautet: Das Jahr, in dem wir sechzehn wurden, war das Jahr des Dauerregens, dessen Soundtrack (weil es auch das Jahr war, in dem Punk endgültig vorbei war und alle Türen aus den Angeln flogen) von Magazines moosnebligem Ewigkeitsmeisterwerk „Secondhand Daylight“ nahtlos überging in die trotzige Betonsensibilität des ebenso ewigen Ruts-Debüts „The Crack“. Das Jahr, in dem man zum ersten Mal verlassen wurde und den Seelenbruch mit der filigranen Trauer von Roxy Music hinwegtanzte, zwischendurch mit Pere Ubu, Joy Division Tubeway Army, Wire und Siouxsie & The Banshees den graphitblauen Wolken schweren Sinn einhauchte und der dauerfeuchten Erde in permanenter Düsternis stets nahe war.
Wie immer gibt es eine vorsichtig, aber drängend aufscheinende Alternativerzählung: brutheiße Tage im wimmelnden Freibad mit einem schmelzenden Herz aus Glas, die in der Dämmerung in gemeinsamen Träumen am offenen Fenster vergingen; aus der Ferne wehten wehmütig-romantische Klänge einer Band namens Supertramp herbei – das Erröten des Erinnernden ähnelt dem Abendschein des späten Septembers. In dem wiederum (noch eine Luke, die plötzlich aufklappt) man tagsüber müßig in der Wiese sich aalte, mild besonnt, umspielt von einer sehnsuchtweckenden Brise und (es gab ja noch nicht mal einen Walkman, auch wenn die Erinnerung automatisch einen hinzufügt) dem zufällig per Rekorder aus dem Radio (Pop nach acht!) aufgeschnappten „Jonathan“ von Barclay James Harvest.
Selbstverständlich nur in heimlicher Einsamkeit, denn: Was auch immer Sechzehnjährigen an peinlichen Ausrutschern gestattet sein mag – BJH ging absolut nicht. Das war die Musik der flaumig Oberlippenbehaarten, der ungeplanten Vokuhilas, der Teestubenfreaks, die für Fliegerjacke, Löwenkopfgürtel und Wranglers zu feige und für „richtigen“ Progrock zu dumm waren. Das waren schleppende, in Mellotronteppichen sich suhlende Simpelharmoniefolgen mit Weltversöhnungstexten für den Jugendgottesdienst („You and me, our life is drifting along / Watching the world as it’s singing its song / High above, someone is calling to me / Life is for living and living is free“).
Aber jetzt: haben wir tatsächlich den komplett verregneten Frühling der Erinnerung, möchten dieser eine hämische Nase drehen und stellen verblüfft fest, daß „Jonathan“ nichts von seinem filigran rührenden Zauber verloren hat. Wühlen tiefer und finden mit „Everyone Is Everybody Else“ von 1974 ein richtig schönes Album, das weit herausragt aus dem orchestralen Schmarrn und dem sülzigen Schnulz, mit dem die Band zuvor sich blamierte und hinterher eine halbe Generation in Zuckerwatte bettete, in glorreichen Zeiten der Piratenradios (die die Platte Tag und Nacht spielten) vom Black-Sabbath-Produzenten Rodger Bain mit gerade genug Wucht aufgeladen, mit dem Langhaarschneider auf den Punkt arrangiert und souverän tänzelnd auf dem dünnen Seil zwischen Bombast und Nichts. Ein Luftballon, na klar, aber so ein Ding kann einen grauen Tag mit einer schwellenden Ahnung von imaginärem Frühsommer füllen.
Die gerade erschienene Boxausgabe mit viel Bonusmaterial und einer DVD als Drittscheibe ist freilich eine zwiespältige Sache, wie das solche Unternehmungen immer sind: ein Konglomerat aus nicht existenter Materie und Energie, das indes die geträumte Erinnerung auf CD 1 nicht trüben kann.