Frisch gepreßt #367: Annett Louisan „Berlin – Kapstadt – Prag“

In der geschlossenen Abteilung für schwere Fälle von Konsensverweigerung herrscht Unruhe, weil ein Langzeitpatient prominenten Besuch empfängt, dessen Zahl den bescheiden bemessenen Mediationsraum für Begegnungen von Drinnen und Draußen zu sprengen droht. Der zum Zwecke einer friedlichen Übereinkunftsanstrebung hinzugezogene Therapeut weist zunächst auf ein nicht unwesentliches Faktum hin:

„Geteilter Meinung zu sein, meine Damen und Herren, bedeutet nicht, wahllos bei Facebook geposteten Bullshit im Chor nachzuplärren.“

„Aha!“ plärrt der Chor der Indie-Neoklassizisten aus der hinteren Reihe. „Und wozu wären wir demnach gut?“

Der Besuchte selbst: lächelt milde. Das Antlitz der nicht mehr normjungen Dame, das seinen Argumentationsordner ziert, entspricht nicht gänzlich dem von ihm gewohnten (allerdings weitläufigen) Stereotyp, zudem werfen Vertreter der Dummphrasenfraktion ihre üblichen Blendgranaten der Modelle „Power-Fee“, „Pop-Lolita“ und „Kraftbündel“, die wie stets gehört verhallen.

Was ihn anfechte, sich mal wieder dem gebotenen Konsens zu entziehen, der doch gerade jetzt leichtgängige Alternativen böte, von Bob Dylans prachtvollem Sinatra-Coveralbum über Marissa Nadler, Richard Ashcroft, Moop Mama, Thrice sowie, nun ja (ein kurzes Bärterauschen), Eric Clapton und Ziggy Marley bis hin zur 20th-Anniversary-Edition des Manic-Street-Preachers-Klassikers „Everything Must Go“, wird der Besuchte gefragt, und sein Lächeln mildert sich weiter.

„Genau darum geht es“, haucht er versonnen. „Enttäuschte Erwartungen erweitern die Genußfähigkeit. Zudem ist es mir seit eh und je ein Anliegen, Inkompatibles zu kombinieren und Erwartungen zu konterkarieren. An einem Album mit Liedern von Rammstein, Tokyo Hotel, Kraftwerk, Wanda, Marteria, Udo Jürgens, Münchener Freiheit, Ich & Ich und David Bowie komme ich daher natürlicherweise nicht vorbei.“

Nun erklingen: schwebende Gitarrenklänge, ein fast demütig bescheidenes Schlagzeug, perlendes Klavier, impressionistisch getupftes Beiwerk und, davon zärtlich umrüscht, die bekannt kindlich-rührende Stimme, bei der man glaubt, die Lippen der Sängerin am Ohr zu spüren.

Brauen heben sich, Haare sträuben sich, und aus dem Hintergrund werden wirre Stimmen und Reaktionen der beteiligten Musiker laut bzw. sichtbar: Till Lindemann knurrt, er fühle sich mißinterpretiert, „Engel“ sei gänzlich anders oder notfalls gar nicht gemeint, und er werde diese Schlampe bei nächster Gelegenheit an einen Stuhl fesseln. Wanda wehren sich gegen den aufkeimenden Verdacht einer in „Bologna“ versteckten ironischen Zwischenebene. Philipp Poisel trocknet der Mund aus, weil er nicht ahnte, wie schön „Wie soll ein Mensch das ertragen?“ ohne Schmalzaufstrich plötzlich ist. Marteria schmollt, weil „OmG!“ plötzlich fast ein Lied ist, dessen entwaffnende Langeweile von der Nacktheit indes noch unterstrichen wird, was alle anderen zu hämisch-wissendem Kichern animiert. Stefan Zauner schmunzelt zufrieden, weil er mit „Solang man Träume noch leben kann“ auch diesmal gewinnt. Ich & Ich erröten in unterschiedlichen Schattierungen, weil sich der zufällig hierher geratene Anwalt von Robbie Williams bei „Stark“ ostentativ Notizen macht und „You think that I’m strong …“ trällert. Und leise summend bebt die Erde, was als wohlmeinende Zustimmung von Udo Jürgens zu seinem aller Brachialität und Hölzernheit entlaugten „Merci Cherie“ gedeutet wird. David Bowie schwebt als Weltgeist im Raum, weil sich das körper-, zeit- und haltlos romantische „Helden“ ja gewissermaßen selbst singt.

Am Ende zeichnet Entsetzen die Züge des Patienten, weil den unbemerkt herbeigeschlichenen Konsens niemand mehr verweigern möchte und der Therapeut ein grünes Häkchen ins Protokoll malt. Aber tief im Innersten freut sich sein Herz.

Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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