WM-Tagebuch 2006 – 16 Reste/Ruinen

Dienstag, 18. Juli 2006: Das Wetter ist noch da, aber anders: geblieben die Sonne, das ewige Blau; verflogen die Schwüle, die einem wochenlang das Gefühl gab, die Stadt schwitze stöhnend unter den Massen von Eventmenschen, die überall herumwuselten wie bunte Ameisen. Jetzt bläst der Wind hindurch, ein Aufatmen.

Die Rasentreppen am Olympiasee, Schauplatz des „Official Public Viewing“: von fern eine braune Kaskade mit leerem Blick auf den Berg, wo das absurde Fußballfeld lag. Die schrägen Tore abgebaut, die Kreidelinien verweht, der Kiosk wochentags verbrettert; müßig spaziert man herum, in Kleinstgruppen ohne Sog, nur die weitläufig kalifornische Abteilung sammelt sich zum quäkenden Trupp, als besichtigten sie schon die Ruinen der historischen Schlacht.

Weiß noch jemand, wer Andre Heller war? Andere machen weiter, greifen die Massenstimmung auf, die Laune zur kollektiven Dröhnung in Staub, Rauch und Schmutz, mit gewohnten Ritualen in anderem Umfeld. Am Wochenende verwandelt sich die Leopoldstraße in den Dickdarm des Lärmreklamekonsums, an der Peripherie registriert man staunend die Leere, die fehlende Nationalhysterie hinterläßt. Man tobt wieder ohne einendes Symbol, läßt sich mitschieben und -reißen minus hehres Ziel. An ein paar von den überdimensionalen Kampfautos weht noch die Flagge, den anderen ist Deutschland wurst. Kurz flackert die Erinnerung an die dümmste Zeitungsschlagzeile der WM-Zeit: Nein, nicht „Schwarz rot geil!“ („Bildzeitung“), sondern: „Kauflust dank südländisch-fröhlicher Stimmung“ (SZ).

Jetzt jammert wieder „die Wirtschaft“, palavert wieder „die Politik“, die es irgendwie doch verpaßt haben, den manischen Nationalheinis, die vor kurzem noch in schwarzrotgelbweiß mit Bierflaschen vor den Supermärkten herumsaßen wie unangebracht verspätete Karikaturen wilhelminischer Hurradeppen, effektiver das Fell über die Ohren zu ziehen, vor der plötzlichen Rückverwandlung in grundsätzlich opferbereite, aber unzugängliche Individualstinkstiefel.

Das Wetter ist noch da, aber anders, die Hubschrauber auch, aber nicht mehr ständig, und wenn das Abebben so weiterginge, könnte, denkt man, die Stadt in einen langen Schönheitsschlaf fallen.

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