WM-Tagebuch 2006 – 15 Kopfstoßlegende

Montag, 10. Juli 2006: Ein großes Spiel ist auch das Finale nicht, aber eine halbe Stunde lang gut und rasant, dann ist Frankreich nach einer Schwalbe in Führung gegangen, hat Italien ausgeglichen, den gleichen Trick noch zweimal probiert und eingesehen: Das wird so nichts. Da war das Spiel in gewisser Hinsicht vorbei, obwohl Frankreich erstaunliche Ausdauer beim Berennen des italienischen Strafraums entwickelte: Der letzte Paß war immer schlecht, einen zweiten Elfmeter verweigerte der Schiedsrichter, und die Italiener zogen sich zurück, als wollten sie ihre Kräfte für die Ehrenrunden sparen.

Nur einer gab nicht auf: Reinhold Beckmann. Der „kommentierte“ die Partie, als handelte es sich um die Abschiedsgala des Fußballgottes Zinédine Zidane, ein TV-Heldenbild, an dessen Ende der große Mann mit kargem Lächeln alleine im Lichtdom stünde und den Weltpokal ins Universum reckte, den seine Ritter an den Spielfäden seiner Genialität tanzend errungen und ihm zu Füßen gelegt hätten. Das ist Beckmanns Beruf: mit rhetorischen Fragen und geheuchelter Überwältigung aus vielfältigem Geschehen, wechselvoller Geschichte, komplexen Persönlichkeiten eindimensionale Pappkameraden herausstanzen. Und als hätte ihn Zidane gehört und könnte das Geschwätz einfach nicht mehr hören, platzte dem in der Mitte der Verlängerung der Kragen, krümmte er den Rücken zur Sprungfeder, schleuderte den Kopf in Marco Materazzis Brust; der stürzte, und Zidane verschwand in den Kellern des Stadions.

Die Show ging trotzdem weiter, ohne Hauptfigur, und da Beckmann weder Journalist noch Erzähler ist, Menschen nicht versteht und vom Fußball keine Ahnung hat, kam er nicht auf die Idee, Materazzis Rolle (er war am Elfmeter beteiligt und hatte den Ausgleich erzielt) zu würdigen oder eine Erklärung für den (spektakulären, aber im Grunde harmlosen, weil zwischen Nase und Sonnengeflecht angesetzten) Kopfstoß zu versuchen, spielhistorisch (der Zweikampf mit der bösen Nemesis), biographisch (die nicht zu unterdrückende Natur des proletarischen Straßenkämpfers) etc. Nein: Zidane, repetierte er, ist schuld, hat es „kaputtgemacht“, das Spiel, die Inszenierung, die Gala, die ja auch seine, Beckmanns, sein sollte, so wie es in seiner Talkshow letztlich immer um ihn selbst geht.

Vielleicht läge darin Zidanes Genialität, sein Gespür für den richtigen Augenblick: nicht (oder auch) die eigene Karriere kurz vor dem vermeintlichen Höhepunkt mit einem antiklimaktischen Blitzschlag zu beenden, sondern die eines unbedarften Plapperers, dem es auf unergründlichen Wegen der Opportunität gelungen ist, sich als Fußballkommentator auszugeben und zum Anführer einer Riege unbedarfter Plapperer zu werden, die sich das Spiel angeeignet haben, ohne es zu lesen, zu durchschauen, die Vielfalt seiner Deutungsmöglichkeiten annähernd zu begreifen. Daß Fußball keine trivialdramatische, Happy-end-gekrönte Heldensaga fürs Hauptabendprogramm ist, könnte man eindrücklicher nicht zeigen.

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