WM-Tagebuch 2006 – 08 Typ: Der alte Torwart

Montag, 19. Juni 2006:

Daß Fußballspieler sich immer ähnlicher werden, ist eine Flachsbinse aus dem „Früher war alles …“-Zopf, zu deren Untermauerung man die gängigen Unterscheidungsbemühungen (grellwirsche Coiffuren, Tätowierungen, bunte Schuhe) heranziehen müßte, und es stimmt ja gar nicht; aber die Individualismen bei dieser WM neigen ins Negative: der schwammige Ronaldo, der ewig ins Abseits rennende Luca Toni, der kleine Deco, das alternde Genie Figo, dazu bekannte Gesichter, unglücklich entzerrt auf Bänken: Jan Koller etwa.

Der erste Typ, der sich mir vom Spiel über das persönliche Bewegungsspektrum bis zur Mimik ins unmittelbare Erlebensgedächtnis prägt, ist der angolanische Torwart João Ricardo, der in zwei Spielen (gegen Portugal und Mexiko) nur einmal überwunden wird (nach dreieinhalb von gut hundertneunzig Minuten), der, wenn er Flanken mit einer Hand aus der Luft pflückt, aussieht wie Fußballspieler aus sehr frühen Zeiten: eine klassische Eins, spielend souverän, über alle stumpfe Erfahrung hinaus mit dem Ball so verwandt/verwachsen, daß man auch in den Momenten, wo er scheinbar hilflos durch den Torraum stolpert, purzelt (dabei aber nie strauchelnd, torkelnd, der aufbrausenden Bewegung des Spiels hilflos ausgeliefert wirkt), stets gewiß ist: Das geht gut, der bleibt ruhig, sicher, fest und macht das schon.

Die an Ronnie Hellström erinnernden Langflüge (keine zuckenden Streckexplosionen, sondern gewaltige Bögen, unspektakulär schön und effektiv) hat er mit dem US-Amerikaner Kasey Keller gemeinsam, ebenso das Alter und die Ausstrahlung von Abgeklärtheit; aber Keller bleibt eine unperfekte Annäherung: Er spielt, immerhin, bei Borussia Mönchengladbach (Ricardo, arbeitslos, trainiert bei einem portugiesischen Zweitligisten mit) und plappert nach dem metaheroischen 1:1 gegen Italien in US-Boy-Manier die Mikrophone mit Motivationssenf voll.

Es gibt mehr halbe, Viertel-, Achteltypen, auffällige Erscheinungen für erinnernswerte Augenblicke; viele davon sind Torwarte, eine notwendige Folge des häufigen Aufeinandertreffens von berechneten Gewinnern und Außenseitern in der Vorrunde. Das wird sich ändern, wahrscheinlich, und João Ricardo wird – bald – ausscheiden. Aber die turnierästhetische Hoffnung ahnt, wie: ohne Zorn, Häme, aufgekochte Autotragik; und man wird sich an ihn erinnern, nicht an zwei Ziffern und ein Spielergebnis.

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