(Ten Years after:) WM-Tagebuch 2006 – 01 Regen, schwarzweiß

Freitag, 2. Juni 2006:

Während mit einem Krawallorkan von Reklame und Kollateralhysterie der WM-Circus durchs Land zieht, noch bevor vom angeblichen Kern der Sache mehr zu sehen ist als die hirndumpfe und beinlahme Stoppelei der deutschen Mannschaft gegen Japan (die als Phosphen nach einer Fernsehhalbzeit bleibt und, wenn man sie in ein Symbol destillieren könnte, den Zustand der Abwesenheit von Spiel und der dazu führenden Disposition ideal wiedergäbe), schmeißt sich in jeden Gedankengang der pathetische Zitatwitz, es sei „kalt geworden in Deutschland“. Aber beim morgendlichen Studium der Namen von fünfundzwanzig frischgekürten Eisheiligen (der gestrige Tag gehört Simeon, dessen Heiligkeit ihren Grund darin fand, daß er sich zur Empörung der reformwilligen Trierer Bevölkerung sieben Jahre lang im Turm der Porta Nigra einschloß), gerinnt der feldgraue Himmel zur Metapher, kommt mir die Häufung von „Wasserschlachten“ bei der WM 1974 in den Sinn, und ein Nachmittag letzten Oktober im Mainzer Wohnzimmer von Ror Wolf, einer Art Siebziger-Jahre-Museum, dessen Kompilator sympathisch und gelassen mißlaunig in eine vermutete Nebelkugel vor seinen Augen starrte, wenn das Gespräch auf die sich anbahnende totalisierte Monsterveranstaltung kam; und gegenüber an der Wand (war das da wirklich, oder imaginiere ich es jetzt hin?) das Schwarzweißbild von Jürgen Grabowski, das über den deutschen Fußball wenig und alles sagt: Er ist eine ernste Sache und findet bei Regen statt.

Das Tagebuch der Fußballweltmeisterschaft 2006 entstand im Auftrag des Münchner Literaturhauses und wurde als Gemeinschaftsprojekt mit anderen Autoren fortlaufend auf dessen Webseite veröffentlicht. Meine Beiträge werden im Spätsommer 2019 bearbeitet in einem Buch mit anderen Erzählungen erscheinen.   

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