Belästigungen 08/2016: „Uck! Uck! Uck! Rrrrarrrgl! Das ist mein Revier!“ (nebst einer dringend gebotenen Alternative)

Daß Lebewesen Räume bewohnen, ist von der Natur so vorgesehen und eigentlich auch recht zwangsläufig: Da sie die Evolution nun mal in einen Körper hineingezwungen hat, müssen sie ja irgendwohin. Und was bleibt da schon außer der Welt, solange man ins Internet (das außer dem Menschen sowieso niemanden interessiert, weil es ein ziemlich nervtötender Wirbelsturm von buntem Plemperlzeug ist) noch nicht wirklich „gehen“ kann?

Aber wie sich das gestaltet und was für Folgen es hat, ist individuell ziemlich verschieden. Das Eichkätzchen zum Beispiel verwandelt innerhalb einer Generation seinen gesamten Lebensraum in einen undurchdringlich dichten Nußbaumwald, indem es jede verfügbare Nuß nach allen Regeln der alten Gärtnerschule in den Boden hineingräbt und sofort vergißt. Der Nadelbaum nadelt und wurzelt in seiner inhärenten Breitarschigkeit alles um sich rum so effektiv zu, daß dort außer ein paar Pilzen überhaupt nichts mehr ein Heim findet. Der Hund wiederum läßt eine Vorform des Großen Pazifischen Müllstrudels entstehen, indem er seinen schweiflosen Assistenten darauf konditioniert, jedes Häuflein Kot in einen Plastikbeutel umzufüllen und in einem Blechkorb zu deponieren, aus dem es die schwarzgeflügelten Assistenten wieder rausholen und den zerfetzten Beutel samt Inhalt ungefähr an den ursprünglichen Standort zurückbringen. Dann kommt erneut der zweibeinige Schweiflose daher und zerbläst mit einem benzinbetriebenen Monsterfön Kotbrösel und Tütenlumpen zu feinem Staub und winzigen Plastikfetzerln, die irgendwann jeden Fleck und jede Nische des Hundehabitats bedecken, inklusive Wohnungen, Nasen und Atemluft.

Oft liegt diesen Bewohnungsvorgängen ein urtümlicher Reviersicherungstrieb zugrunde. Wenn zum Beispiel der Münchner Funhipster wochenends nach Schwabing hineinzieht, gefällt es ihm da so gut, daß er ähnlich wie der Hund durch das Vollbrunzen und -kotzen sämtlicher Hausecken klarstellt: „Das ist mein Revier, ihr Arschlöcher!“ Weil der Mensch jedoch – schon wieder: die Evolution – nicht mehr dazu neigt, solche sinnreichen Botschaften zu beschnuppern und zu achten, ist das ganze Entleerungsspektakel zu einem Atavismus verkommen (einem urzeitlichen Verhalten, das keinen aktuellen Zweck und Sinn mehr hat, also so was wie Wählengehen oder das Ersetzen sinnvoller sprachlicher Äußerungen durch Grunzgeräusche wie „Uck! Uck! Uck!“, „Rrrrrarrrgl!“ und „Obergrenze!“).

Deshalb geschieht die Revierabsteckung nun in neuer Form, indem der Funhipster die zu seiner Grundausstattung gehörende Bierflasche nach deren enthemmender Leerung an strategisch günstigen Stellen auf den Boden knallt und damit den Zugang zu seinem Bereich zumindest für Artgenossen auf Rädern beziehungsweise mit empfindlichem Schuhwerk problematisch gestaltet. Man munkelt, daß sich die Unterspezies des Möchtegern-Großbürgers, die seit den Achtzigern in Schwabing Einzug gehalten und mit einer Sintflut idiotischer Rechtsprozesse den kulturellen Sumpf trockengelegt hat, um ungestört dem Röhren von SUV-Panzern lauschen zu können, mittlerweile weniger von Musik, Tanz, Theater und Kabarett in der Ausübung ihrer Existenz gestört fühlt als durch die Häufung nächtlicher Geräusche von platzenden Radlreifen und schnittwundenbedingten Schmerzensrufen.
So oder so verbleibt am Ende eine sehr artspezifisch gestaltete Umwelt, von der sich Fremdes vorsichtshalber fernhält und in der der jeweilige Bewohner gemütlich herumwesen kann, wie es ihm beliebt. Um so mehr erschrickt er, wenn plötzlich doch mal wer daherkommt. Bestenfalls: ein Gast.

Schlimmstenfalls: ein Flüchtling. Also irgendwie dasselbe, oder?

Wenn es derzeit um Flüchtlinge geht, ist meistens schnell die Rede von der Gastfreundschaft, die diese in Deutschland genießen. Gastfreundschaft, das betont die völkisch-nationale Fraktion bei jeder Gelegenheit, sei etwas, was man gewähren, aber bei ungebührlichem Betragen oder je nach Lust und Laune auch wieder entziehen könne.

Und da irren sie sich, die besorgten Spießbürger. Seit Anbeginn der Zivilisation ist Gastfreundschaft keine Gnade, sondern ein unveräußerliches, ja: das vielleicht unveräußerlichste Recht überhaupt. Wer es verweigert, verabschiedet sich aus der zivilisierten Welt und kehrt zurück in die Vorbarbarei. Das mußte schon der Kyklop Polyphem erfahren, der glaubte, er könne Odysseus und seine Gefährten teils verschlingen, teils einfach so aus seiner Höhle hinausbefördern, anstatt ihnen Speis und Trank zu entbieten, wie sich das gehörte, und dafür eine glühende Pfeilspitze ins einzige Auge bekam.

Gastfreundschaft hieß damals und immer: Bei wem ich einkehre, dem steht es jederzeit und unwiderruflich frei, bei mir einzukehren. Und nicht nur ihm, sondern ebenso seinen Kindern, Kindeskindern, Kegeln und Kegelkegeln. Und es steht ihm noch einiges mehr zu: Den alten Griechen war das Schutzgebot des Zeus Xenios so heilig, daß sich Gastfreunde im Krieg weigerten, gegeneinander zu kämpfen. Das Mittelalter und die frühe Neuzeit sahen das kaum anders; die Hospitalitas als universelles und unbedingtes Gastrecht galt nicht nur in Klöstern; noch Kant und nöcher Derrida (allerdings, eine wichtige Einschränkung, nur für Menschen) feierten und verteidigten sie, und wer über einen „Mißbrauch“ oder ein „schamloses Ausnützen“ jammerte, entlarvte sich damit als kleingeistiger, gottloser Egoist, der eher durch ein Nadelöhr als ins Paradies kommt.

Die Industriekapitäne und Kapitalführer der Ganzneuzeit wiederum, die neuerdings das Hohelied der Gastfreundschaft flöten (oder von ihrer Kanzlerin flöten lassen) und sich die Hände reiben angesichts der heranschwappenden Massen von ausbeutbarem Menschenmaterial, die sollten an jenen namenlosen biblischen Pharao denken, der einst versuchte, Gastfreundschaft in die Bestückung mit Niedriglohnjobs und Praktika umzuwandeln, und am Ende inmitten einer Invasion von Fröschen, Heuschrecken, Stechmücken, Fliegen, Pest, Cholera, totem Vieh, toten Erstgeborenen, Hagel, Finsternis und einem Nil voller Blut dastand.

So kann es einem gehen mit dem Raum, den man bewohnt, wenn man ein paar simple Grundregeln nicht beachtet oder gar vergißt. Drum nehme ich mir jetzt mal ein Frühlingsbeispiel und gelobe, auch dieses Jahr der erstbesten Sippe von vagabundierenden Wespenviechern in meinem Hasenstall unbedingte Hospitalitas zu gewähren. Gestochen hat mich bislang noch k(aum)eine, und als trotzdem egoistischer Neuzeitler denke ich dabei freilich auch an meinen Vorteil: Das Stachelvieh hält Fliegen, Stechmücken und Bremsen zuverlässig fern, Frösche stören nicht, und den sporadischen Hagel ertragen wir gemeinsam.

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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