Die U-Bahn ist das Fastfood unter den Fortbewegungsmitteln: Nicht der Weg ist hier das Ziel, sondern das Ziel – Hauptsache satt, das heißt: Hauptsache da. Damit ähnelt U-Bahnfahren am ehesten dem Traum aller Transporttechniker, dem aus „Raumschiff Enterprise“ bekannten Beamen: Man steigt ein, wird durch identisch schwarze, ortlose Tunnel geschossen und steigt wieder aus, an identisch häßlichen, funktionsbestimmten Bahnhöfen. Die Frage, ob sich die Menschen, die an einer der 93 Stationen ein- oder aussteigen, nach Stadtvierteln und Tageszeiten oder unter anderen Gesichtspunkten gleichen oder unterscheiden, ob sie spezifische Gruppen bilden, läßt sich am besten mittels einer Expedition erforschen, die zwar nur ein stichprobenartiges Bild liefern kann, aber immerhin ein echtes Abenteuer ist, wenn man ansonsten generell nur mit dem Fahrrad oder zu Fuß unterwegs ist.
Start am Hohenzollernplatz, früher Nachmittag; der von Norden kommende Zug ist gefüllt mit Schülern, Studenten, Rentnern, zu denen sich weitere gesellen, dazwischen eine Mutter mit Kinderwagen (dem heute üblichen Modell „Gesamthaushalt in klein“, bepackt mit Tüten, Taschen, Kleidung), der ohne Rücksicht auf Mitreisende in die Menge gedrängt wird. Am Königsplatz kommen ein paar kulturbürgerliche Individualisten in üblicher Uniform (Mantel, Schal und Hut, das Kinn nach oben gereckt) hinzu, und am Hauptbahnhof leert sich die Bahn weitgehend, in alle Richtungen. Am Sendlinger Tor ändert sich durch mittlere Jahrgänge auf Einkaufsbummel die Altersstruktur, Richtung Giesing auch die Ausstrahlung der Menschen: Zufriedenheit und entspannte Meditation weichen zunehmender Müdigkeit, die Gesichter werden grimmiger, und immer ist unter zehn Passagieren einer, der der aktuellen Ernährungsmode getreu eine Flasche Augustinerbier in der Hand trägt, ohne indes wie ein Trinker zu wirken. An der Untersbergstraße warten ausschließlich Ausländer und ein paar Rentner, am Giesinger Bahnhof ist es ebenso, allerdings sind es nun wieder hauptsächlich Schüler, die noch weiter aus der Stadt hinaus, nach Ramersdorf, Neuperlach und in die neue „Messestadt“ fahren. Erstaunlich trotzdem die Ruhe im Zug – es ist wohl was dran an der Behauptung, Kinder seien vom Schulstreß heutzutage so geschlaucht, daß die ausgelassene Fröhlichkeit früherer Zeiten nicht mehr denkbar ist. Höchstens noch zeigt man sich gegenseitig Bilder auf dem Handydisplay.
Am Innsbrucker Ring treffen sich vier Bahnen auf vier Gleisen, und unsere leert sich bis auf die Sitzplätze. Neu dabei einige sehr alte Menschen mit junger Begleitung, ein afrikanischer Vater mit drei Kindern, die so lebendig wirken, daß sie der Bildungsdruck offenbar noch nicht erfaßt hat. Die Haltestelle Josephsburg ist mir völlig neu, eine edel gemeinte weinrote Röhre mit schachbrettartigem Granitboden, die kulturelle Bedeutung signalisiert, wo aber niemand aus- oder einsteigen mag. Dafür an der Kreillerstraße, wo die letzten gutsituiert bis wohlhabend wirkenden Passagiere, die man eher nach Waldtrudering verortet hätte, die Bahn verlassen (abgesehen von einer blonden Frau Anfang zwanzig, die wie ein Photomodell wirkt und seit Beginn der Fahrt an Bord ist), was erstaunlicherweise die durchschnittliche Laune zu bessern scheint. An der Haltestelle Trudering, die aussieht wie ein Atombunker, wartet die nächste Ladung Schüler im Teenageralter, deutlich lauter, strenger parfümiert und mit mehr Nieten verziert als ihre innenstädtischen Vorgänger. Der Bahnhof am Moosfeld hingegen, Heimat eines hochmodernen Gewerbegebiets, ist tagsüber fast menschenleer – klar: Hier wird am Aufschwung gearbeitet.
Messestadt West: Ein etwa 15jähriges Mädchen erklärt seiner Oma am Telephon, wie deren Telephon funktioniert, die blonde Frau ist nun meine einzige Mitreisende. An der Messestadt Ost endet die Fahrt; nach einer kurzen Besichtigung der monströsen, durch Straße und U-Bahnlinie in Arbeit und Hausen zweigeteilten Betonwüste, die offenbar vollkommen wahnsinnige Architekten hier angerichtet haben, setze ich mich in die leere Bahn, in die anfangs nur spärlich Menschen tröpfeln – drei türkische Kollegen, ansonsten nur Frauen: eine extrem Korpulente Mitte zwanzig, die so unglücklich wirkt, daß man sie am liebsten trösten würde, kichernde Teenager, verhärmte Altsekretärinnen und ein still leidendes Trio aus Mutter und zwei Töchtern. Keine Rentnerinnen, die leben hier wohl (noch) nicht.
Auffallend ist, daß aus Trudering ganz andere Menschen in die Stadt hinein wollen als zuvor dort hinaus, und viel mehr. Unter vielen grauen Gesichtern mit ausladender Leibesfülle fällt diesmal ein Paar Ende 60 auf, das der Kleidung und dem „würdevollen“ Benehmen nach offenbar aus der „Urbevölkerung“ (Villa mit Garten) stammt und tatsächlich baierischen Dialekt spricht – als bisher einzige auf der Reise.
Aber die Stimmung ist jetzt entschieden fröhlicher – anscheinend fährt man nachmittags (es ist kurz nach 15 Uhr) lieber in die Stadt hinein, als aus ihr hinaus zu müssen. Am Innsbrucker Ring ist der Bahnsteig voller Menschen in Winterjacken, deren preßwurstartige Gestaltung nur in der Farbe variiert, aber niemand will zu uns, fast alle steigen in die U5 Richtung Laim. Am Karl-Preis-Platz kommt eine Handvoll Menschen dazu, die in etwa das repräsentieren, was man heute gerne mit dem entwürdigenden Begriff „sozial schwach“ diffamiert: ein übergewichtiges Mädchen in grellbunter Discounterkleidung, ein alter Mann mit fast leerer Plastiktüte, eine auffallend kleine Frau mit ungepflegter Frisur und Alkoholfahne, die vor sich hin murmelt. Dazu ein Mann Anfang fünfzig in teurer Freizeitkleidung mit SZ, „Spiegel“ und Kopfhörern, den ich spontan als Gymnasiallehrer einschätze, bis er aus seiner Aktentasche die bereits erwähnte Augustinerflasche zieht. Oder ist er trotzdem einer?
Nun ist Essenszeit, gut die Hälfte der Reisenden führt in regelmäßigen Abständen zerkrumpelte Papiertüten zum Mund, in denen unterschiedliche Zusammensetzungen von Mehl, Fett und Zucker stecken, und ab der Silberhornstraße steigt der Anteil von Büchern als Reiselektüre deutlich an; allerdings meist fette Taschenbuchschwarten mit nichtssagenden Titeln, nur eine unauffällige junge Frau mit Nußschnecke liest ein fest gebundenes Exemplar, sogar mit Lesebändchen. An der Fraunhoferstraße erfüllt eine Sechsergruppe mutmaßlich Freischaffender, die sich aufreizend hochgestochen und geziert über Filme unterhalten, das Klischee vom Schwulenviertel, der Bahnsteig am Sendlinger Tor wimmelt von noblen gestylten Papiertragetaschen voller hochwertiger Beute, deren Besitzer jedoch alles andere als glücklich wirken – vielleicht schlägt ihnen das Wetter aufs Gemüt, es ist den ganzen Tag noch nicht hell geworden (und hier im Untergrund sowieso nicht). Kurze Zigarettenpause am Tor, wo sich auffallend viele Menschen verabreden, die gerne mehr wären als das, wofür sie sich halten (ein spontaner Eindruck, den ich nicht erklären kann), während drunten die Polizei ein paar Punkjugendliche und einen betrunkenen Ausländer provoziert.
Die Poccistraße ist der wohl deprimierendste U-Bahnhof der ganzen Stadt; wer hier einsteigt, hat offensichtlich eine demütigende Amtsbehandlung auf dem KVR hinter sich; wer aussteigt, tut das ebenfalls recht freudlos, wohl weil man weiß, was einen erwartet. Die innenstädtische Individualität der Winterkleidung nimmt Richtung Westen rapide ab, ebenso die Verständlichkeit der Durchsagen in der U6, dafür wechselt die Lektüre nun wieder zum breiteren Format mit den Riesenbuchstaben. Am Harras sitzt ein Rentnerehepaar, das nicht einsteigt und so wirkt, als säße es hier schon seit Jahren, so wie man früher vor dem Haus auf einer Bank saß.
Wieso gerade am Partnachplatz nur abgekämpfte Arbeiter und illusionslos deprimierte Arbeitslose (allesamt männlich) einsteigen, ist mir ein Rätsel, weil ich ehrlich gesagt gar nicht weiß, wo der Partnachplatz liegt – Sendling, na gut, vielleicht ist das Zufall. Die Station Westpark, grüngelb gekachelt wie ein altes Wienerwald-Klo, ist völlig leer, hier will auch niemand raus. Es sind sowieso nur noch acht Menschen im Abteil, von denen sechs in Holzapfelkreuth (noch so eine Toilette, diesmal mehr gelb) aussteigen, unter anderem ein Künstler mit Cellokoffer. Zurück bleiben ein Mann und eine Frau, beide klein und schwächlich wirkend, die Rücken an Rücken sitzen, bis er das bemerkt und ein paar Reihen weiter Platz nimmt. Am Haderner Stern, einer Scheußlichkeit aus Glasbausteinen, steigt die Frau aus, nun sind wir allein, der Mann sitzt mir schräg gegenüber und hält eine leere blaue Stofftasche. Wer oder was er ist, wage ich nicht zu vermuten, es ist absolut nicht zu erkennen.
In Großhadern wartet ein Riesenaufgebot von Menschen zwischen 18 und 35, die größtenteils ausländisch zumindest wirken, aber in die Stadt hineinwollen. An der Endstation Klinikum Großhadern fragt mich der kleine Mann mit norddeutschem Akzent nach dem Weg zum Krankenhaus; spontan denke ich, daß er seine Mutter besucht, die zum Sterben hier ist. Die Menschen, die hier auf die Rückfahrt in die Stadt warten, wirken so desillusioniert, daß ich ohne Aufenthalt sofort zurückfahre, wieder fast allein im Abteil, nur eine verträumte Schülerin fährt mit. Erst am Haderner Stern drei weitere Fahrgäste: ein junges Paar trägt einen Holzrahmen, der zu einem Kinderbett gehören könnte, ein Mann im Anorak schließt sofort nach dem Hinsetzen die Augen und schläft ein. Zwei ehemals Halbstarke, jetzt Ende vierzig und anscheinend Veteranen der Örtlichen Stehausschänke, springen in Holzapfelkreuth in letzter Sekunde lachend in den Zug, unterhalten sich lautstark darüber, daß sie noch Zigaretten besorgen müssen, und schweigen dann für den Rest der Fahrt. Insgesamt fahren auf der Westachse der U6 so wenige Menschen, daß die wenigen nicht zusammenzufassen sind, sieht man davon ab, daß sie offensichtlich finanziell weniger gut dastehen als die Richtung Norden, aber zufriedener aussehen als die Luxuskonsumenten am Sendlinger Tor.
Zweiter Abstecher in den Westen, diesmal mit der U3 von der Implerstraße, wo die Ruhe beim Warten besonders friedlich und geduldig wirkt. Die hochmodernen Anzeigetafeln, die in etwa so viel gekostet haben, wie die Angestellten der MVG derzeit vergeblich an Lohnerhöhung fordern, zeigen vier Minuten lang stur eine Minute Wartezeit an, aber die Menschen hier nehmen sie in ihrer Erschöpfung sowieso nicht wahr; ich stelle fest, daß ab 16 Uhr die Niedergeschlagenheit in den Gesichtern stark zunimmt; gegen 17 Uhr werden sie regelrecht griesgrämig, der Blick so leer, daß er nicht mal mehr die Werbetafeln über den Sitzen erfaßt, die wohl als eine Art Ersatzlandschaft gedacht sind. Zugleich wird es immer wärmer in der Bahn, in der an der Brudermühlstraße zumindest um diese Zeit niemand mehr unter 45 und über 65 ist. Klar: für einen Ausflug in den Tierpark ist es zu spät, zumal dienstags. In Thalkirchen leert sich der Wagen ein wenig, die Aussteigenden wirken noch am zufriedensten. In Obersendling, noch so einem schockierenden Atombunker, steigen die letzten einigermaßen Jungen aus, an der Forstenrieder Allee zwei neue ein, die offenbar aus akademischem Elternhaus kommen: Die Kleidung ist leger, aber teuer, ihr Auftreten selbstbewußt, sie sprechen über die Vorzüge aktueller Unterhaltungselektronikgeräte und mokieren sich über den französischen Akzent des Fahrers. Zweite Zigarettenpause in Fürstenried West, dessen soziale Struktur von der Forstenrieder Straße eindrucksvoll und unüberbrückbar geteilt wird: links trostlose Wohnblocks in Reih und Glied, rechts Ein- und Zweifamilienhäuser mit Gärtchen. Die Menschen, die hier aus- und einsteigen, bieten dafür ein überraschend homogenes Bild: Arm ist offenbar kaum jemand, richtig wohlhabend auch nicht. Es gibt geringfügige Unterschiede: Mütter mit Kinderwagen halten sich eher links, wo man auch die Treppen deutlich erschöpfter hinaufsteigt, während rechts das Haar der Frauen mittleren Alters kürzer und gefärbt ist und man lebenslustiger die nur hier angebotene Rolltreppe erklimmt.
Auf der Rückfahrt bleibt die Bahn fast leer, offenbar gibt es in dieser Gegend also auch kaum „Arbeitsmigranten“, vulgo Pendler, zumindest keine solchen, die jetzt, um halb sechs, schon Feierabend hätten. Dafür an der Aidenbachstraße: viele junge Frauen, einige ebenfalls junge Paare; alle wirken so, als stünden sie am Anfang einer unspektakulären, aber einigermaßen sicheren Karriere, dazu gut gekleidete Männer zwischen fünfzig und sechzig, mutmaßlich der Berufsgruppe zuzuordnen, die man einst Abteilungsleiter nannte und heute mit kryptischen englischen Phantasiewörtern verziert.
Die zuvor so virulente Niedergeschlagenheit ist auf der Rückfahrt viel geringer; man liest konzentriert, aber gelassen. An der Brudermühlstraße steigen die ersten Jugendlichen ein, die erkennbar auf dem Weg ins Nachtleben sind; überhaupt sinkt der Altersdurchschnitt von Station zu Station, selbst an der Poccistraße, die ein um diese Zeit überraschend begehrtes Ziel zu sein scheint, und am Goetheplatz, wo der weibliche Anteil der zusteigenden Menge vielleicht wegen der Kliniken in der Umgebung so hoch ist.
Am Odeonsplatz steige ich um in die U4 ostwärts. Hier ist der Ausländeranteil praktisch null, ebenso die Zahl der Übergewichtigen; wer im Lehel oder am Prinzregentenplatz aus- oder einsteigt, blickt streng bis hochmütig und macht sich wohl so seine Gedanken über die sinkende Leistungsbereitschaft in Deutschland. Klar: in Bogenhausen wohnen die Sieger des kapitalistischen Prozesses; der Bahnsteig an der Richard-Strauß-Straße stadtauswärts wirkt fast wie ein Zweitliga-Model-Wettbewerb (die erste Liga fährt Auto), und am Arabellapark weiß man um die eigene Bedeutung und muß sie nicht mehr zur Schau stellen. In diese Gegend zieht es auch die Kulturelite, die für einen Konzertabend mit leichter Hand das Monatseinkommen eines Hartz-IV-Beziehers ausgibt, aber in der U-Bahn logischerweise kaum vertreten ist. Und selbstverständlich gibt es „normale“ Menschen, die wie überall den Kontrast bilden und deren Anteil auf der Rückfahrt Richtung Innenstadt um diese Zeit naturgemäß wesentlich höher ist.
Dritte Zigarettenpause um sechs in einem stillgelegten Bushäusl an der Englschalkinger Straße, inzwischen ist es dunkel; der Laptop, auf dem ich schreibe, sorgt dafür, daß man mich nicht für einen Stadtstreicher hält, der hier noch unwillkommener wäre als in Milbertshofen oder Giesing. Dennoch ist der Blick derer, die von der U-Bahn direkt in eines der wartenden Taxis umsteigen, mißtrauisch. Auf der Rückfahrt sammelt die U4 bis zum Odeonsplatz die ein, die hier nur arbeiten und nicht wohnen; immerhin sind es Graphiker, Werbefachleute, Finanzmenschen, also solche, die zumindest hoffen dürfen, sich eines Tages im Lehel oder in Bogenhausen anzusiedeln. Es wird erstaunlich viel geredet, vor allem über Firmen und Kinder.
Die weitere Fahrt, dies aus Platzgründen kurz zusammengefaßt, führt in den fernen Westen, wo der Münchner Kleinbürger noch am traditionellsten kleinbürgerlich wirkt und manche Frauen sogar Kopftuch tragen (allerdings nur das klassisch deutsche Modell, gegen das erstaunlicherweise niemand etwas einzuwenden hat), dann in den noch ferneren Südosten – nach Neuperlach, wohin so viele Menschen unterwegs sind, daß der Begriff „Trabantenstadt“ mit der Vorstellung von Erde und Mond nicht recht in Einklang zu bringen ist. Dann geht es ein letztes Mal nach Süden (zum Mangfallplatz, wohin am frühen Abend niemand fährt, den man irgendwie für gegendtypisch halten könnte) und nach Norden, ins fast ebenso stark wie Neuperlach frequentierte Hasenbergl und weiter nach Feldmoching, das offenbar nur als Umsteigebahnhof zum Flughafen dient.
Dann ist es wirklich Abend, und inmitten vorglühender Jugendlicher auf dem Weg zu diesem oder jenem Amusement stelle ich fest: U-Bahnfahren ist ermüdend und deprimierend und kostet Kraft; obwohl man nur sitzt, ist man beim Ankommen erschöpft wie nach einem langen Arbeitstag. Na gut, aber U-Bahnen sind ja normalerweise nicht dafür gedacht, stundenlang herumzufahren, was ich als Freizeitbeschäftigung übrigens ganz und gar nicht empfehlen kann. Und: der größte Teil der Menschen, die U-Bahn fahren, verliert dabei das Gesicht, wird Teil einer formlosen Masse von 351 Millionen Beförderungen pro Jahr, aus der nur ganz wenige herausstechen, die dafür aber um so deutlicher.
Ein anderes Fazit (und einige Randbemerkungen): Während man als Radfahrer und selbst in der Trambahn auf dem Weg durch München stetige Veränderungen der Menschen, ihrer Kleidung und Ausstrahlung, aber auch von Landschaft, Architektur, Enge und Ferne, Ruhe und Lärm, Heiterkeit und Trauer erlebt, ist die U-Bahn tatsächlich ein großer Gleichmacher – hier fließt alles in eins, läßt sich die Ortlosigkeit der modernen Fortbewegung als Mischung aus Vertrautheit, Sicherheit und Öde erfahren. Die Zeit, die man in der U-Bahn verbringt, ist vielleicht nicht verloren, aber gelebt ist sie auch nicht. Die Welt der Unterschiede, der regionalen, lokalen, individuellen Zugehörigkeiten löst sich dort drunten im Tunnel auf, ist aufgehoben in einer Gemeinschaft der Leere, in der selbst die sozialen Trennlinien der Klassengesellschaft unscharf werden.
An einigen Haltestellen, etwa dem St.-Quirin-Platz am Rand von Giesing, versucht die Bahnhofsarchitektur wenigstens notdürftig die dort drunten mit dem da draußen zu verbinden, indem sie die umgebende Landschaft dem Blick öffnet; auf der oberirdischen Strecke der U6 nordwärts wird die Bahn zum Teil davon. Auch hier scheidet eine große, die Ingolstädter Straße die Wohnblocks rechts von den Siedlungshäuschen links; beide entfernen sich, bis endlich die Fröttmaninger Heide ein ganz neues Bild von Weite und Stadtferne bietet, allerdings ge- oder zerstört vom Tosen der Autobahn, dem schrecklichen Anblick der müllcontainerartigen Panzerwiesensiedlung und der wie ein Wahrzeichen gigantischer Vergänglichkeit über allem thronenden, unübersehbaren Arena-Kloschüssel.
Am nordwestlichen Ende, am Olympia-Einkaufszentrum, aber auch in Neuperlach West, zeigt sich schließlich, was die U-Bahn auch ist: Münchens größte Wärmestube, in der vor allem Jugendliche sich treffen, um in unmittelbarer Nähe unterirdischer Konsumtempel sozusagen in der Aura und im Prestige der dort erhältlichen, aber für sie unerschwinglichen Produkte zu baden und das zu tun, was sie ehemals auf öffentlichen oder Sportplätzen und in Freizeitstätten taten: ihren Platz in der Welt suchen, ohne pädagogisches Gebimse. Man möchte ihnen spontan predigen, doch hinauszugehen in die tagsüber impertinent strahlende Herbstsonne; aber zugegeben: Die Hanauer Straße ist für Kinder in keiner Hinsicht ein geeigneter Lebensraum, und Neuperlach auch nicht. Das ist vielleicht der größte Nachteil regelmäßigen U-Bahn-Fahrens: Man vergißt, daß es irgendwo da oben eine Stadt gibt, und läßt sie entsprechend verwahrlosen.
Oh, und das bemerke ich erst jetzt: Auf der ganzen Fahrt bin ich nicht ein einziges Mal kontrolliert worden.