Frisch gepreßt #363: White Denim „Stiff“

Immer wenn der Schnee schmilzt, der Matsch verfließt in der milde lächelnden Frühlingssonne, erstehen vergessene Vergangenheiten wieder auf, in Form von Gegenständen und Gefühlen, aber auch als Lebenszusammenhang. Das ist nicht einfach bloß jahreszeitlich zu verstehen, sondern auch metaphorisch.
Zum Beispiel die elektrisch verstärkte Gitarre. Wie oft war man versucht, zu denken: Ach ja, gab es mal, waren lustige Zeiten, aber jetzt sind und herrschen andere, da muß man sich anpassen und das so nehmen und die kulturellen Fühler und Fühligkeiten entsprechend ausrichten. Aber heißa!, dann schmilzt der Schnee der letzten Moden, und plötzlich steht sie wieder er-, auf und da, und es fetzt und dröhnt ein unwiderstehlicher Knaller wie „Had To Know (Personal)“ oder „Mirrored In Reverse“ aus den Boxen, und plötzlich ist wieder 1975. Und zwar ein 1975, das nie war, auch wenn die Namen, Bilder und Erinnerungen nur so hageln aus dem jahreszeitlich unabhängigen Frühlingshimmel.

White Denim ist ein schönes Bild: ein weißes Stück Stoff, auf das man malen kann, was man mag und was einem in den Sinn kommt. Blumenblüten, Blutstropfen, Liebesweh, Regennachmittage, eine Landschaft ohne Zeit und Bewegung, das Toben einer Stadt, die sich ekstatisch in ihrem eigenen Lärm suhlt. Wichtig ist: einzusehen, daß es nichts schon gab, sich nichts wiederholt, nichts schon da war. Das sind nur Anwandlungen, die aus dem menschlichen Grundbedürfnis erwachsen, Dinge und Gefühle zu identifizieren. Liebe, Freude, Lust und Wut, Trauer, Sehnsucht, Begeisterung gibt es immer nur dann, wenn man sie spürt, und mit irgendeinem Moment, da man ähnliches schon mal gespürt zu haben glaubt, hat das nichts zu tun.

Drum ist es ein Riesenblödsinn, der Band White Denim zu attestieren, sie sei „retro“, obwohl das stimmen mag. Diese euphorisch packenden, die Eingeweide erschütternden Gitarrenriffs und unberechenbaren, gleichzeitig sparsamen wie essentiellen Solos, diese mal selbstvergessen frohlockende(n), mal saftig-soulig röhrende(n) Stimme(n), die zum Fäusterecken und den seltsamsten Körperverrenkungen und kaum erklärlichen „Yeah!“-Ausstoßungen animierenden Rhythmen und rhythmischen Verschiebungen (am schönsten vielleicht im finalen „Thank You“) mag man irgendwann mal gehört zu haben glauben, aber da kann man noch so tief im Plattenschrank und im Kollektivgedächtnis wühlen, man findet immer nur Annäherungen, die man mit einem überraschten „Nein, huch, das war ja doch ganz anders“ wieder verwirft. So geht Erinnerung: Das Neue formt die Vergangenheit, aus der es logischerweise kommt, in der es aber keine Wohnung mehr hat.

Es klingt paradox, ist aber einfach wahr: White Denim, vier relativ junge Männer aus dem texanischen Austin, erfinden die Rockmusik vollkommen neu. Und ja: in den neun Songs auf ihrem siebten Album gibt es buchstäblich tausende von Momenten, wo man mit leuchtenden Augen denkt: „O ja! Das ist doch …“ Dieses Verwirrspiel beschränkt sich auf die siebziger Jahre, auf die Zeit und die Welt zwischen Slade und REO Speedwagon, Deep Purple und Free, Montrose und Vinegar Joe, Silverhead und Soft Machine, Wishbone Ash und Mott The Hoople, Sharks und Terry Reid, Commodores und Led Zeppelin, Traffic und Nazareth; und wer die Hälfte dieser Namen noch nie gehört hat, der hat ein Riesenglück: Er kriegt eine ganze Epoche auf einem Album, und zwar nur die guten, die großen, die anrührenden und mitreißenden Momente, zusammengerührt zu einem überschäumenden Hexenkessel der Ideen ohne eine fade Zehntelsekunde.

Wir anderen: sind begeistert, ganz einfach. Da ist er, der Frühling, mit dem man nie rechnet und der doch einfach kommt, immer wieder und nie mehr so.

Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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