Frisch gepreßt #361: The 1975 „I Like It When You Sleep, For You Are So Beautiful Yet So Unaware“

Der Traum ist die Bibliothek der Erinnerungen; allerdings gelten dort äußerst eigentümliche, anderweltliche Naturgesetze: Bücher, Blätter, Pergamente und Schriftrollen stehen nicht etwa einer Ordnung von Ordnungen folgenden Ordnung gemäß in Regalen und Schränken, sondern treiben in verschlungenen Choreographien durch den Raum. Körperlose Wächter in Schleiern schweben schweigend, Kannen in den unsichtbaren Händen, aus denen sie Licht gießen, das erst zu strahlen beginnt, wo es Geschriebenes trifft und die urgeheimen Zeichen zu Schrift wandelt, die sich dem inneren Auge erschließt.

Greif ein Blatt, es trägt die Signatur eines in den Mahlströmen der Ewigkeiten versunkenen Jahres: 28. Februar 1975, in kindlicher Handschrift (Bleistift) der Vermerk „Ich ließ das Wohnzimmerlicht brennen.“ Dazu Bilder weicher Landschaften, in Pastelltönen (grün bis goldbraun) flirrend, durch die verschwimmende Gestalten flanieren, durchweht von Klang, der späteren Ohren exotisch scheint in der Eitelkeit seiner Gegenwärtigkeit. Versink in der Wärme. „Please Be Naked“.

Ach, der Winterschlaf; er endet mit dem Glitzern der verfrühten Frühlingssonne in den Schneeresten und vollkommen anderen Klängen, die gleichwohl eine ähnliche Signatur tragen („1 June, The 1975“, gefunden in einem verkritzelten Jack-Kerouac-Taschenbuch – ein schöner Mythos für den Ursprung eines Bandnamens). Die verschwimmenden Gestalten materialisieren zu vier jungen Männern, und wenn „Please Be Naked“ (Track 7, die Hand des Zufalls) verklungen ist, stürmt die Gegenwart heran: ein Puzzle aus Scherben ungelebter, leichthändig aus dem Fundus gezupfter Erinnerungen auch sie. Die frühen Primal Scream und My Bloody Valentine tauchen durch die metallische Lava von „Lostmyhead“, der ersten Hälfte des zentralen Doppelpacks, aus dessen zweitem Teil („The Ballad Of Me And My Brain“) durchsichtige Bilder von INXS und Duran Duran erstehen.

Dazwischen hüpfen disparate Figuren von solcher Vielfalt herum, daß die Orientierung schwer fällt: Prince und Michael Jackson in Autotune- und Telephonfilterverfremdung, Talking Heads auf brodelndem Asphalt, der 80er-Robert-Palmer im schimmernden Cabrio, Depeche Mode in stählernen Neonfabriken, Brian Eno, Scritti Politti, Hall & Oates; der melancholische Sperrstundensynthpop der mittleren 80er („Somebody Else“) versöhnt sich blind betrunken mit dem Plastiksex der Foals, Spandau Ballet tanzen in kühlem Trockeneisnebel in schweißfrei knitternden Rüschenhemden mit David Bowies diamantenen Kötern. Die Texte verschlingen genialische Straßenpoesie mit niederem Blödsinn; der Weltversöhnungs-Hip-Hop der 90er badet in New-Wave-Verfremdung und Gospel-Seligkeit, aus dem Titelsong perlt die romantische Motorik von Cluster und Harmonia und die Elektro-House-Monotonie der Nuller, zerfließt in Dream Pop und knalligem Supermarkt-Boygroup-Funk, und am Ende verglimmt ein gemütliches Lagerfeuer, zu dem Lo-Fi-Akustiksaiten und eine einsame Kassettenrekorderstimme sanft schwingen, während die Morgensonne über die Hügel klettert.

Die vier jungen Männer „selbst“ haben sich derweil im 74 Minuten währenden Blizzard der Anspielungen, Verkörperungen, Reminiszenzen, Re-enactments buchstäblich aufgelöst, sind zu Spiegelungen geworden, zu körperlosen Wächtern in Schleiern, die aus Kannen Licht auf vergessene Chiffren gießen und sie zu Schrift wandeln, die sich dem inneren Auge erschließt.

Sänger Matt Healy entstammt übrigens einer Schauspielerfamilie und lebt in Manchester. Wer hätt’s geahnt? Und seine Ansprüche sind durchaus unzeitgemäß: „Can we stop talking about nothingness? No one’s asking you to inspire a revolution, but inspire something!“ Möglich ist vieles. Und wir: lassen derweil das Wohnzimmerlicht brennen.

Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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