Belästigungen 6/2016: Ich werde jetzt zur Abwechslung auch mal was wohl noch sagen dürfen!

Wenn man sich in Deutschland ein bißchen umschaut, könnte man glatt Mitleid bekommen. Da leben ein paar dutzend Millionen Menschen, die brav ihre Arbeit tun und redlich ihr Brot brechen, die Kinder nähren, das Haus in Ordnung halten und die Kehrwoche achten. Und dann kommt eine wildgewordene Bande von ein paar unverbesserlich gutmenschlichen Weltverbessererlinken daher und möchte sie mundtot und zur Unperson machen, indem sie ihnen verbietet, ihr Grundrecht auf freiheitlich-demokratische Meinungsausstoßung auszuüben und zu sagen, was Sache ist.

Zum Beispiel daß der Ausländer nicht ins Inland hineingehört. Daß beim Hitler nicht alles schlecht und manches sogar ganz gut war, außer dem Krieg, an dem aber nicht nur er schuld war. Daß der Neger von Natur aus alles rammelt, was bei drei nicht auf dem Baum ist. Daß der Araber aus jeder Handtasche alles herausreißt, was man nicht festkettet, und uns dann noch sein viel zu teures Benzin verkaufen und in jeden deutschen Weiler Minarette hineinstellen möchte, um mitten in der Nacht darauf herumzuklettern und mit Muezzingesängen die christliche Abendandacht zu stören. Daß der Jude seit Jahrhunderten mit Zinswucher und Bankenmacht das Abendland aussaugt und so mächtig ist, daß ihn nur noch ein neuer Hitler aufhalten kann. Daß es nun mal so ist, daß die Menschenrassen nicht gleich schlau und tüchtig und tapfer sind, sondern je südlicher, desto fauleres und feigeres Kroppzeug. Und sowieso daß sämtliche Politiker ein korruptes Pack sind, das nur seine Diäten im Sinne hat. Und so weiter. Und vor allem daß man all das auf keinen Fall sagen darf, weil sonst die linke PC-Gesinnungspolizei daherkommt. Schon gar nicht darf man es fischerchormäßig grölen auf täglichen Großaufmärschen, bei denen auch mal ein kleines Feuerchen das Mütchen wärmt, und in Millionenbestsellern und in jeder Talkshow im Fernsehhauptabendprogramm und überhaupt.

In der Tat: schlimm, schluchz. Aber die Polemik mal beiseite: Unbestreitbar ist, daß die öffentliche Meinung in Deutschland und insbesondere die öffentliche Meinung der Meinungsführer in den letzten circa zwanzig Jahren mit stetig wachsender Dynamik und zunehmendem Schwung eine nationalvölkische, pseudokonservativ-reaktionäre, in der Mehrheit rassistische und in pionierischen Teilbereichen offen faschistische Richtung eingeschlagen hat, bei der man sich Woche für Woche wundert, daß rechts vom Tenor der Vorwoche und der gerade noch für final gehaltenen Scham- und Wahngrenze offenbar doch immer noch Platz ist.

Diese üble Devolution scheint einer gewissen Logik zu folgen. Schließlich ist vor gut fünfzig Jahren eine meistenteils studentische und mittelschichtige Masse ebenfalls recht bewußtlos in die vermeintliche Gegenrichtung geströmt und fand sich am Ende in zersplitterten Zellen hunderter K-Gruppen wieder, im Mao-Anzug und mit belferndem Geschwätz auf den Lippen, beziehungsweise in Seuchenherden von WG-Küchen die Versetzung des öffentlichen Trinkwassers mit LSD diskutierend und Pläne für den nächsten Nepaltrip schmiedend. Scheint doch irgendwie zwangsläufig, daß das gesellschaftliche Weltanschauungspendel dann mal wieder in die Gegenrichtung ausschlägt, oder?

Der Unterschied ist, daß die sogenannten 68er in der millionenfachen Mordwirtschaft der Generation ihrer Eltern und Großeltern, in deren nach wie vor tobendem „Sollte man vergasen! Hätt’s beim Führer nicht gegeben!“-Furor des Verdrängens und Vertuschens und der Vehemenz, mit der sie gegen den harmlosen Karneval der Hippies vorging, durchaus plausible Gründe fanden, den Laden auf den Kopf zu stellen und mal gründlich auszumisten. Von vergleichbaren Greueltaten des heterogenen Haufens von Gammlern, Haschrebellen, Esoschwärmern und Möchtegern-Rotgardisten ist hingegen nichts bekannt – es sei denn, man wollte der Kommune 1 und Rudi Dutschke die Verantwortung für Pol Pot und die chinesische Kulturrevolution anlasten. Aber so weit würde wohl nicht mal Akif Pirinçci gehen.

So oder so: dürfen die Rechtslautsprecher ohne Zweifel in meinungsbefreiten Zeiten sagen, was sie zu sagen haben. Einen Furz soll man nicht zu lange unterdrücken, sonst wird aus der Blähung eine Kolik. Man könnte allerdings einwenden, daß wir den Quatsch mittlerweile zur Genüge vernommen haben, daß die einschlägigen Bestseller die Müllhalden füllen und daß es daneben noch ein paar andere Dinge gäbe, die man auch sagen könnte und die aber niemand sagt. Dann sage halt ich jetzt mal ein paar davon.

So wird man etwa ja wohl noch sagen dürfen, daß die Armen nichts dafür können, daß sie arm sind, die Reichen hingegen schon. Man wird ja wohl noch sagen dürfen, daß die Armen auch nichts dagegen tun können. Oder fast nichts, was nicht verboten ist.

Man wird ja wohl noch darauf hinweisen dürfen, daß es im Gegensatz zu Hunderassen keine Menschenrassen gibt. Man wird ja wohl noch sagen dürfen, daß „Flüchtling“ im Gegensatz zu Bäcker, Spekulant, Taschendieb, Künstler, Schreiner, Taxifahrer, Bettler, Schwimmlehrer, Aktienhändler, Gärtner und Zahnarzt keine Berufs- und im Gegensatz zu Münchner, Waliser, Tiroler, Texaner, Athener oder Chinese auch keine Herkunftsbezeichnung ist. Man wird ja wohl noch erwähnen dürfen, daß ein rassistischer Berliner Buchautor ebenso schnell zum Flüchtling werden kann wie ein pazifistischer syrischer Buchhändler. Und umgekehrt, im einzelnen.

Man wird wohl noch sagen dürfen, daß der eine nur das haben kann, was der andere nicht hat. Daß dadurch, daß aus viel immer mehr und aus wenig immer weniger wird, Reichtum und Armut entstehen und daß weder Reichtum noch Armut per se glücklich macht, wird man ja wohl noch erwähnen dürfen. Man wird außerdem wohl noch sagen dürfen, daß es ohne Reichtum keine Armut gibt, ohne Armut keinen Reichtum und ohne beides eine schöne Welt voll glücklicher Menschen.

Und man wird ja wohl noch sagen dürfen, daß all das, was die tobenden Horden der besorgten Deutschen bejammern und anprangern und worauf sich ihr Haß und ihre Gewalt richten, ziemlich einfache und ziemlich konkrete Gründe hat, von denen sie selbst, ihr Lebensstil, ihre Dummheit, ihr Mitmachen beim verbrecherischen Treiben des kapitalistischen Prozesses aus reiner Gier, Bequemlichkeit und purem Opportunismus nicht der kleinste und bei weitem nicht der unwichtigste sind.

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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