Frisch gepreßt #360: Jochen Distelmeyer „Songs From The Bottom Vol. 1“

Provisorischer Lexikoneintrag: Jochen Distelmeyer, 1967 in einer Stadt geboren, die es vermutlich gibt (Bielefeld), fing recht spät als „Bienenjäger“ an, sich musikalisch zu szenieren. Gründete als Zivi in Hamburg die Band Blumfeld, deren schroffkantiges Debüt „Ich-Maschine“ eine der wichtigsten deutschen Hipsterplatten (d. h. viel diskutiert, kaum gehört) der 90er wurde. Schuf 1994 mit „L’Etat Et Moi“ durch die Verarbeitung britischer Indiepopmusik (Wedding Present et al.), aber auch von Einflüssen aus der frühen NdW (etwa des notorischen Düsseldorfer KFC) und genialisch-subjektive textliche Hackstückverdichtung ein Meisterwerk von ungeheurer Schönheit und wundervoller Kraft. Verpulverte danach mit immerhin (oder: zu allem Überfluß) unironischem Schlagerpop seine musikalische Relevanz, wurde zum Türhoch- und Torweitmacher für Kirchentags-Grützbeutel wie Tomte.

Löste die Band 2007 auf, leitete damit ihre Akademisierung ein und wurde Solokünstler. Mußte nun allerdings selbst für Bezeichnungen wie „Deutschlands untypischster Popstar“ sorgen, schrieb nach dem außerhalb der Gewerkschaft der Berufshipster kaum beachteten Album „Heavy“ einen schlaffen Roman und erregte Ende 2015 mit der Ankündigung einer Platte mit Coverversionen u. a. von Britney Spears entzücktes Entsetzen in den erwähnten Kreisen. To be continued bei Gelegenheit.

Und ja, es sind Sachen drauf auf dem Album, die geradezu ein Transparent vor sich hertragen, auf dem in Riesenlettern „Peinlich! Billige Provokation!“ steht. Aber schon der allererste Eindruck ist ein komplett anderer, und er ist bleibend: Joni Mitchells „Just Like This Train“ verstrahlt eine derart überwältigende, samtige, absolut klassische Schönheit, Eleganz und Perfektion, daß sämtliche Bedenken – auch wegen der selbstverständlich fehlenden Selbst- oder Irgendwie-Ironie – verfliegen wie winterlicher Atemdunst in der Frühsommersonne. Da greift man zum Kopfhörer, um festzustellen, daß Distelmeyer tatsächlich nicht nur ein guter, ein großer Gitarrist (geworden) ist, sondern auch ein „echter“ Sänger, der stellenweise (etwa in Pete Seegers antikem Schmachtfetzen „Turn Turn Turn“) so richtig Seele, Timbre und sinnliche Dringlichkeit/Überzeugungskraft entwickelt.

Beim zweiten Hören entdeckt man Nuancen, Tiefen und Untiefen der Songs: Britney Spears‘ „Toxic“ wird unter der glatten Oberfläche geradezu jazzig, ohne seine aufreizende Synthetizität zu verlieren. Nick Lowes „I Read A Lot“ verstrahlt fast so viel ernüchterte, gelassene Trauer wie das Original, während „Pyramid Song“ (Radiohead) zwar billiger Kitsch bleibt, aber in klanglicher und atmosphärischer Souveränität und Stimmigkeit die Vorlage weit übertrifft. Al Greens „Let’s Stay Together“ muß man weiterhin mögen, um es mögen zu können, aber der Hauch von Bossa nova und die (etwas ungeschickt und grob hineingesampelten) Zwitschervögel verleihen dem Everschnulz erfreuliche Leichtigkeit. Bei Aztec Camera, Kris Kristofferson und Ivor Cutler hätte man viel falschmachen können, die unendlich dröge „Bittersweet Symphony“ von The Verve kann Distelmeyer immerhin versöhnend entlarven und rührende bis bewegende Momente daraus hervorkitzeln, die damals in den Lawinen von Geräusch und Hall ertranken.

Daß hingegen aus „I Could Be The One“ von der trällernden Hot-Dog-Semmel Avicii ein bescheiden grandioses, zauberhaft melancholisches Dreiviertelinstrumental zu destillieren sein könnte, hätte sicherlich niemand vermutet. Und selbst der singende Fön Lana del Rey und ihre klanggewordene Plastiktüte „Video Games“ entfaltet in Distelmeyers analog-akustischer Interpretation einen eigentümlichen Reiz.

Was man auf diesem strom- und trommelschlagfreien Album vergeblich sucht, ist ein einziger Fehler, Makel, Ausfall, ungeschickter Bruch, unschöner Moment, ein Augenblick der belanglosen Nachsingerei. Manches darauf vergißt man schnell wieder (kann es aber jederzeit mit Genuß erneut hören), manches gräbt sich so tief ein, daß man damit vielleicht für alle Zeiten den Februar 2016 verbinden und auch ihn nie mehr vergessen wird. Es ist – und ich gestehe: das erstaunt mich bis in die Haarspitzen und Zehennägel – mehr als eine Überraschung, mehr als das beste Distelmeyer-Album seit 1994: eine Sensation, möglicherweise ein echter Klassiker.

Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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