Belästigungen 05/2016: Hundert Jahre Horror – im Banne des K-Worts

Ich weiß ein lustiges Spielchen: Man setze sich in eine beliebige „aktuelle“ Diskussion hinein („aktuell“ heißt: es geht um das, was einem die Führungsmedien derzeit als „Themen“ verkaufen wollen, also je nach Stand der „Informiertheit“ Flüchtlinge, Syrien, Ukraine, Griechenland, Putin … das ist weitgehend egal, weil sowieso im wesentlichen immer das gleiche) …

Klammer zu, guten Morgen, noch mal von vorn. Also: Man setze sich in eine beliebige Diskussion über aktuelle „Themen“ hinein und schaue erst mal freundlich. Wenn sich ein günstiger Moment ergibt – also wenn zum Beispiel alle grad kurz erschöpft sind vom Pingpongspiel der „Argumente“, Schlagwörter und gegenseitigen Relativierungen (Clausnitz! – Köln! – Österreich! – Stacheldraht! – Seehofer! – Bautzen! etc. pp.), – wirft man einfach mal so den Begriff „Kommunismus“ hinein.

Das Ergebnis ist meistens höchst erstaunlich: Vom knochenköpfigen Grölnazi über den biederen Mahnkerzenkatholiken bis hin zum krempelärmeligen Sozialfaschisten bilden plötzlich alle eine spontane Einheitsfront. Das, so tönt es, gehe zu weit, sei jenseits alles Sagbaren, ein Unding im wahrsten Sinne, per se und je indiskutabel, nicht mal andenkbar, absolut tabu und pillepalle. Fragt man doch mal nach, läßt sich die empörte Replik kurz zusammenfassen: Kaiser Wilhelm, Industriesklaverei, Ausbeutung, Flucht und Elend, Weltkrieg, KZ und Völkermord, Atombomben, Umweltzerstörung, millionenfacher Hungertod … was auch immer zwischen Verdun, Auschwitz, Stalingrad, Hiroshima, Korea, Vietnam, Afrika, Afghanistan und Syrien passiert ist, war halb so schlimm und im Grunde sowieso nur eine völlig legitime Reaktion auf die größte, wildeste und düsterste Bedrohung, die der Menschheit je erwachsen ist. Und war nicht der Hitler genau genommen auch Kommunist?

Schon komisch. Man möchte meinen, neunzig Prozent der Deutschen unserer und der letzten zehn Generationen hätten den größten Teil ihres Lebens in Stalins Gulags zugebracht. Am erstaunlichsten ist: Obwohl es einen Kommunismus (wenn wir eineinhalb Jahrtausende Klosterleben mal ausblenden) noch nie gab, ist es absolut verboten, sich zu fragen, was das sein, bedeuten und werden könnte. Kein Zweifel: Die alles überwölbende, durchdringende, gestaltende und befeuernde Ideologie (mindestens) der letzten hundert Jahre ist der Antikommunismus. Und wer glaubt, das sei eine natürliche Folge dessen, was Stalin, Mao und andere dazumal im Namen des Begriffs angerichtet haben, der muß sich schon fragen lassen, wieso der Deutsche den Holocaust in ein paar Monaten „bewältigen“ und dann schon wieder krähen konnte, es sei ja gar nicht alles so übel gewesen und man solle endlich aufhören mit der Schämerei. (Oder fragen wir mal anders: Weshalb konnten die fünf bis zehn angeblichen Anarchisten der ersten RAF-Generation für eine derartige Kollektivpanik sorgen, während hunderte bombende, mordende, brandstiftende und nach wie vor aktive Terroristen diverser Wehrsport-, Heimatschutz- und NSU-Horden keinem aufrechten Deutschen auch nur ein Fünkchen Nervosität einflößen?)

Offenbar rührt das schlimme K-Wort an eine menschliche Urangst, eine Ausprägung jener möglicherweise genetisch vorgeprägten Paranoia, von der Arthur Koestler einst meinte, sie sei die Folge eines evolutionären Defekts, der eines Tages zur kollektiven Selbstvernichtung führen werde. Daß in dieser Hinsicht im Verlauf der letzten hundert Jahre manch ernsthafte Anstrengung unternommen worden ist und wird, ist kaum zu bezweifeln.

Worauf aber richtet sich diese Furcht, die durch keine Vernunft zu besänftigen oder auszutreiben ist? Zusammengefaßt: Schlagt mir meine Welt kaputt, vernichtet meine Lebensgrundlagen, raubt mir meine Lebenszeit, sperrt mich in unbewohnbare Kisten und Käfige, beutet mich aus, zerrüttet meine Psyche, vergiftet und bestrahlt mich, zerstört meine Beziehungen, aber wagt es nie, meine Freiheit zu beschneiden!

Freiheit? die worin besteht? Im wesentlichen: Dreck zu kaufen, im Mobchoral eine vorverdaute „Meinung“ zu grölen und ohne Überwachung und „Gängelung“ dies und das tun zu können, ganz individuell und ohne Gleichmacherei. Zum Beispiel in Urlaub fahren, ohne Grenzen, über die man nicht hinüber darf (aber sehr wohl mit tödlich gesicherten Grenzen, über die anderes Kroppzeug nicht herüber kann).

Hört sich reichlich doof an, ist auch reichlich doof, wie das Ideologien und andere psychische Störungen halt gerne mal sind. Dagegen, so möchte man meinen, hülfe ein Schlückchen Realismus. Oder sagen wir: ein offenäugiger Blick in die Welt, die uns umgibt und deren Teil wir sind. In der vom Outlet bis zur Einzelkleidung alles immer gleicher wird, in der alle das gleiche essen, trinken, sehen, hören, lesen, reden, in der man eine Meinung jederzeit äußern, aber damit nur dann etwas bewirken darf, wenn es dem Gesamtzweck dient, in der jede (nicht nur verdächtige) Äußerung und Bewegung abgehört, aufgezeichnet und gespeichert wird, in der es nur eines noch gibt, was sie von der K-Horrorvision unterscheidet: theoretisch nach einer Richtung durchlässige Grenzen. Wenn man halt noch über genügend Kaufkraft verfügt, um ihn sich leisten zu können, den Urlaub, auf den offenbar sämtliche Lebenssehnsüchte des 20. und 21. Jahrhunderts zusammenschnurren.

Wollen wir das, was da herrscht, versuchsweise „Kommunismus“ nennen? Oder diskreditieren und beschmutzen wir damit einen Begriff, der für etwas vollkommen anderes steht, wovon Menschen einst träumten, als sie das noch wollten, konnten und durften?

Wer weiß, vielleicht finden wir auch dafür ein anderes, schöneres Wort. Und vielleicht schaffen wir es dann sogar, dem pessimistischen Herrn Koestler die Zunge rauszustrecken.

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Kommentar verfassen

Entdecke mehr von Michael Sailers Blog

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen