Frisch gepreßt #358: Suede „Night Thoughts“

Ich weiß nicht, ob es für oder gegen die 90er oder für oder gegen die Zehner oder für oder gegen beide oder gegen die Wirksamkeit der dazwischenliegenden Nuller als Filter oder Damm oder Nährboden oder alles drei oder für gar nichts und gegen ebenso wenig spricht, jedenfalls: gehen die 90er einfach nicht weg. Oder vielleicht waren sie zwischendurch mal kurz draußen an der frischen Luft, das hat aber keiner bemerkt, weil wir so intensiv ins Gespräch oder den Sex oder irgendwas anderes vertieft waren?

Da sind sie jedenfalls, wieder, immer noch, wer weiß. Sicher ist: Wenn 1993 jemand gesagt hätte: „Wir werden auch in 23 Jahren hier sitzen und uns neue Alben von Skunk Anansie, Tortoise, den Tindersticks, Bonnie Prince Billy, Suede und meinetwegen Dream Theater und Terrorgruppe anhören, die genauso klingen und aussehen werden wie heute!“, dann hätten wir höchstens milde gelächelt, ihn getätschelt und ihm nötigenfalls etwas über den Fluß der Zeit, der Mode und der Entwicklung erzählt.

Und jetzt? Hätte der vermeintlich arme Irre in vielerlei oder fast jeder Hinsicht recht, und wir müssen wägen, ob das gut oder schlecht oder egal ist. Schlecht könnte sein, daß keine Zeit für neues Neues bleibt, wenn man sich mit neuem Alten beschäftigt, aber wer mag entscheiden, ob es das wert gewesen wäre? Gut andererseits ist, daß neues Altes Erinnerungen weckt und man was zu erzählen hat, von damals.

Suede: waren mal die größte Band der Welt, zwei Sommer und Winter und zwei titanische Alben lang, umflirrt von Chaos, Glamour, Sex, Drogen, Sensation und Aufruhr, von epischen Träumen, gebrochenen Herzen und der Vision einer anderen Welt, in der es den dumpfen Stumpfrock der Crossover-, Grunge- und Alternativewichte nie gegeben hatte, sondern Bowie, Roxy, Jobriath und Cockney Rebel den Staffelstab der Popmajestät nach einer kurzen Auffrischung durch Punk und New Wave direkt an Brett Anderson übergaben, der mit seiner antarktisch coolen Bande von genialen Outcasts von Tag eins an einen Ewigkeitshit nach dem anderen in die trostlosen Straßenschluchten der kapitalistischen Metropolen schoß.

Es folgte die Supernova mit dem dritten Album, das den zuvor mit Bernard Butler angehäuften Brennstoff an Wahnsinnsideen fast restlos abbrannte, und der erst taumelnde, dann katastrophische Sturz ins Nichts. Gut so, dachten wir damals, denn „Suede“ und „Dog Man Star“ werden für immer bleiben und nie ein Molekül an romantischer Größe, an melancholischer Wucht und Kraft verlieren (zumindest solange niemand „A New Morning“ auflegt). Eine Halbreunion als The Tears und nette Soloalben von Brett Anderson schmierten Balsam auf bisweilen aufreißende Narben, heilend war indes vor allem die reifende Einsicht, daß einmal Erlebtes eben für immer bleibt und gar nicht wiederhergestellt werden muß.

Aber schließlich: war der Kern von Suede (und, nicht zu vergessen, schon von Roxy Music) schon immer eine Art paralleluniversaler Nostalgie: die Sehnsucht nach Zeiten, die es (so) nie gegeben hatte. Wie überhaupt im Zentrum jeder wirklich guten Popmusik das schwarze Loch der jugendlichen Grunderfahrung schwärt: Vergeblichkeit. Drum kann man nicht anders, als „Night Thoughts“ hören zu müssen, in der zitternden Erwartung der herbeigesehnten Enttäuschung.

Und dann stellt man fest, daß die eher ideell ist, daß schon Songtitel wie „Pale Snow“, „Outsiders“ und „No Tomorrow“ im Herzen Saiten erklingen lassen, an die Richard Oakes mit seinen meinetwegen immer noch epigonalen, aber wirksamen Riffs nur sanft zu rühren braucht, die Brett Andersons nach wie vor grandiose Stimme und seine Melodiebögen fast zum Reißen spannt. Mag sein, daß der orchestrale Pomp dieses neuen Albums höchstens eine Reminiszenz an „Dog Man Star“ sein kann, es ist aber meilenweit „echter“ als der unentschlossene, nur teils inspirierte Aufguß von vor drei Jahren, und wahr ist auch, daß die Imitation einer Geste manchmal fast so schön sein kann wie die Geste selbst.

Geben wir uns also hin, eine wundervolle gute Dreiviertelstunde lang, und wenn der letzte Nachhall von „The Fur & The Feathers“ verklungen ist, dann ziehen wir die schweren Samtvorhänge wieder auf und erblicken vielleicht: eine neue Welt.

Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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