Belästigungen 04/2016: Vernunft 2016: Wir stellen das Mühlrad verkehrt herum auf und reden dann mit dem Bach!

Jedes Jahr das gleiche blöde Ritual: Erst kommt irgendein Amt oder eine Behörde zu der Erkenntnis, daß die „Schere“ zwischen Arm und Reich im verflossenen Jahr mal wieder weiter aufgegangen ist und insgesamt immer mehr aufgeht. Die Regierung sagt dazu normalerweise nichts, höchstens daß sie sich bemühe, um was auch immer. Dann kommen die Leitmedien (SZ, FAZ etc.) daher und stellen fest, daß das schon seine Richtigkeit habe und nicht weiter schlimm sei, schließlich sei Deutschland im Durchschnitt recht wohlhabend und es gehe ja auch den Armen hier noch besser als anderswo.

Was wahrscheinlich stimmt, aber egal ist, weil man immer jemanden findet, dem es noch schlechter geht – notfalls sorgt man dafür selber, indem man mal wieder ein Land in die Steinzeit bombt, weil dort „der Terror“ haust. So oder so: gibt es genug anderes zu vermelden, was fürchterlich, erregend und schlimm ist und selbstverständlich keinesfalls etwas mit der Anhäufung von immer gigantischeren Reichtümern in den Klauen von immer weniger Erdbewohnern zu tun hat.

Zum Beispiel eine „Flüchtlingskatastrophe“, die darin besteht, daß Menschen auf dem Erdball, den sie bewohnen, auch nicht anders reagieren als zum Beispiel Mäuse und Schnecken in einem Garten: Wenn der allmächtige Gärtner auf die Idee kommt, alles, was an irgendwie Genießbarem in „seinem“ Garten sprießt und reift, in den Schuppen hineinzuraffen, obwohl er so viel niemals mampfen kann, dann muß er sich nicht wundern, wenn die Mäuse und Schnecken ihr Naturrecht selber in die Hand nehmen und irgendwie in den Schuppen hineinschlüpfen. Da hilft weder Gift noch Falle noch Stacheldraht, und wenn der Gärtner im Furor seines Haßneids das Zeug lieber vernichtet, als es dem Geziefer zu gönnen, dann haben wir eine Kreatur vor uns, die die Welt nicht versteht und der man deswegen auch keine Verfügungsgewalt darüber gewähren sollte.

Von der anderen Seite marschieren derweil die notorischen Sozialromantiker heran und bringen ihre gewohnten Vorschläge in Stellung: Der ganze Wahnsinn mit der ungerechten „Verteilung“ (ein typischer Euphemismus, der das Trugbild erzeugt, da stehe irgendwo ein lieber Gott mit unsichtbarer Hand herum, der die Früchte der gesamtgesellschaftlichen Arbeit verteilt und dem dabei halt ein bisserl das Augenmaß verrutscht ist) wäre ganz leicht zu beheben, indem man an ein paar „Stellschrauben“ dreht. So empfiehlt etwa der sicherlich ehrenwerte und wohlmeinende Heiner Flassbeck in seinem aktuellen Buch „Nur Deutschland kann den Euro retten“: „Die Herausforderung für Deutschland besteht darin, seine Unternehmen zur Rückkehr zu Bedingungen zu überreden, unter denen sie viel weniger verdienen und viel mehr investieren.“

Das klingt auf den ersten Blick vernünftig, o ja, weil die dahinterstehende Logik so logisch und verlockend ist: Wenn nur der Reiche etwas weniger schnell noch reicher (oder gar ein bißchen ärmer) wird, sei alles gut, weil eigentlich mögen wir uns ja allesamt und wollen letztlich nur in Harmonie gemeinsam wirtschaften und abends die Biergläser zusammenstoßen. Leider hat der gute Herr Flassbeck überhaupt gar nichts verstanden, und deshalb ist an seinem Satz rundweg alles falsch: „Die Herausforderung“ (als wäre die Herstellung gerechter Verhältnisse eine Disziplin der Bundesjugendspiele) „für Deutschland“ (als wäre der Rest der Welt davon nicht oder nicht in erster Linie betroffen) „besteht darin, seine Unternehmen“ (als wäre Deutschland – wer auch immer das im einzelnen sein sollte – eine Art Eigentümer globaler Konzerne) „zur Rückkehr“ (als hätte es das Paradies je gegeben) „zu Bedingungen“ (als könnte irgendwer außer dem Kapital selbst dem Kapital irgendwelche Bedingungen stellen oder auferlegen) „zu überreden“ (als könnte man mit Börsenkursen freundlich plaudern), „unter denen sie viel weniger verdienen (…)“ (was so absurd ist, daß sich jeder Kommentar erübrigt).
Ebensogut könnte man ein Mühlrad verkehrt herum in einen Bach hineinstellen und dann meinen, man bräuchte bloß dem Bach gut zureden, damit er andersherum fließt, und schwuppdiwupp verwandelt sich die Welt in eine Märchenidylle, in der Fuchs und Has und Kapital und Lumpenproletariat nach gemeinsamem Schaffen friedlich am Lagerfeuer sitzen.

Ebenso sinnlos ist der immer wieder aufflackernde, scheinbar bescheidene Pseudozynismus, mit dem Leute wie Yanis Varoufakis und Oskar Lafontaine eine „Rettung des Kapitalismus“ herbeizuführen fordern, indem man Zustände, die unerträglich und unmenschlich sind, zumindest davor bewahrt, komplett zusammenzubrechen, weil sonst die Barbarei, die jetzt schon praktisch überall herrscht, angeblich erst so richtig ausbrechen täte.
Und das Kapital? Das sitzt derweil herum, wird immer fetter und fühlt sich auch nicht wohl. Es fühlt sich, so hört man, bedroht, allerdings selbstverständlich nicht von irgendwelchen Vermögens- oder „Reichen“-Steuern, gegen deren Einführung verläßlich die am lautesten plärren, die davon profitieren würden. Sondern vom Gegrummel seiner Opfer, die vielleicht eines baldigen Tages keine Opfer mehr sein mögen und dann eventuell am Watschenbaum rütteln könnten. Es lebt sich nicht sonderlich gemütlich in der Zweitausend-Zimmer-Villa, wenn draußen vor dem Elektrozaun die Verhungernden campieren.

Da ist es ganz natürlich, daß man den Abstand vergrößern möchte, und das geht (abgesehen von ein paar Panikern, die sich in letzter Zeit vermehrt entlegene Ländereien kaufen, um dort in Ruhe vegetieren zu können) dem Instinkt zufolge am besten, indem man noch reicher wird, um sozusagen den Berg, dessen steile Abhänge einen schützen, noch weiter aufzuschütten. So entstehen – zusätzlich befeuert durch Gier, Langeweile und das Wissen, daß es wurst ist, wenn das Geld „verbrennt“, weil eh noch zu viel davon übrig ist – schwindelerregend riskante Finanzmanöver wie die beliebten „Leerverkäufe“, die ungefähr so funktionieren: In einem Schaufenster hängt das Bild einer schönen Gitarre, die tausend Euro kosten soll. „Hör zu“, sagt ein schlauer Berater, „das Ding wird nächste Woche nur noch zehn Euro kosten! Wenn du jetzt hundert Stück davon verkaufst und sie erst nächste Woche bezahlst, nimmst du hunderttausend Euro ein und mußt nur tausend Euro zahlen!“

Ein Irrsinn, freilich. Einer von vielen, die natürlicherweise aus dem Boden schießen wie Schwammerl, wenn genug Geld, das niemand brauchen kann, auf Privatkonten herumliegt und schimmelt. Wer glaubt, solcher Irrsinn lasse sich mildern, eindämmen oder sänftigen, damit der „normale“ Irrsinn noch ein bisserl länger weitergehen kann, macht sich nicht unbedingt der Vernunft und Menschenfreundlichkeit verdächtig.

Manchmal ist das Akzeptieren von Unausweichlichkeiten der erste Schritt zur Einsicht, die irgendwann (fast) von selbst zur Überwindung führt. Möglicherweise.

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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