Frisch gepreßt #355: John Coltrane „A Love Supreme (The Complete Masters)“

Oh, das Leben … es ist groß und oft nicht leicht, vor allem wenn die Liebe dazwischenkommt. Dann wirren sich die Sinne, knotet sich die Welt, verschwimmen die Wege, flirren die Zeichen und spielt sich mancherlei physiologisches Durcheinander ab, das von der Physiologie an sich nicht vorgesehen ist. Undenkbar, unmachbar scheint vieles, was der Alltag verlangt, was ihn prägt und den Menschen auf gewohnten Gleisen durch sein Leben trägt.

Das geht auch sozusagen indirekt: Wer schon mal versucht hat, John Coltranes geradezu absolutistisch klassisches, vor (am 9. Dezember) genau 51 Jahren eingespieltes Ewigkeitsalbum „A Love Supreme“ zu hören und nebenbei zum Beispiel eine Lohnarbeit zu verrichten, der kennt den Effekt (und wer ihn nicht kennt und es versuchen möchte, sollte dies nicht ohne Schutzkleidung tun). Es ist ein Bad in einem Vulkan der Klänge, der tobt und rumpiert, grollt und brodelt, dampft, pulsiert, raucht, bebt und endlich in ein endloses Meer strahlender Klarheit sich ergießt, wenn Coltrane im abschließenden vierten Satz („Psalm“) auf dem Saxophon ohne Worte das ewige Gedicht rezitiert, das in Worten nur angedeutet wiedergegeben (auf dem Cover) und wiederzugeben ist: „(…) God breathes through us so completely … so gently we hardly feel it … yet it is our everything (…).“

Von welchem Gott da die Rede ist – dem lieben oder einem zürnenden, einer Drei- oder Vielfaltigkeit, Zeus, Pluto oder jenem der islamischen Ahmaddiyya-Gemeinde – ist gleichgültig, sind sie doch alle nur unzureichende Projektionen, in denen sich die menschliche Ehr-Furcht vor den Wundern und Schrecken der unendlichen Welt manifestiert, in die das Wesen geworfen ist und wird und die es anders nicht begreifen kann. Im Grunde ist es die Liebe selbst.

John Coltrane hatte einiges hinter sich, als er „A Love Supreme“ aufnahm: Nicht lange zuvor war er für seinen Pioniergeist, sein wild wucherndes Genie in der Genese des modalen und des Free Jazz ausgebuht, seine Musik, die er als „umfassenden Ausdruck des Seins“ empfand, von Kritikern als „Anti-Jazz“ beschimpft worden. Das Miles-Davis-Quintett hatte er 1957 nach den legendären Alben „Cookin’“, „Relaxin’“, „Workin’“ und „Steamin’“ wegen seiner galoppierenden Heroinsucht verlassen (deren Überwindung durch eine spirituelle „Wiedergeburt“ via Ahmaddiyya „A Love Supreme“ verarbeitet). Nach langen Jahren mit wechselnden Begleitern, die ihn inspirierten und aber auch erdeten, fand er 1962 sein „klassisches“ Quartett mit McCoy Tyner am Klavier, Schlagzeuger Elvin Jones und dem neuen Bassisten Jimmy Garrison und bändigte die wilden Experimente der Jahrzehntwende, die gelegentlich in lediglich technisch interessante Eskapaden ausarteten, nahm zwei Balladenalben auf und spielte mit Duke Ellington – rückblickend alles wichtige Entwicklungsschritte hin zu seinem (letzten) Meisterwerk, das ein kaum zu erwartender Bestseller wurde, seine gewohnten Verkaufszahlen um das Zwanzigfache übertraf und weit über den Jazz hinaus eine bis heute anhaltende Wirksamkeit entfaltete, die selbst vor U2 nicht Halt machte (zumindest wird das Album in „Angel Of Harlem“ zitiert).

Viel vor sich hatte er dann leider auch nicht mehr: Am 17. Juli 1967 starb John Coltrane mit vierzig Jahren an Leberkrebs. Sein Vermächtnis ist groß und oft nicht leicht, aber „A Love Supreme“ öffnet selbst jenen, die an Jazz wenig finden, Türen und Fenster zu einer neuen Wahrnehmung der Welt. (Die zusätzlichen Tracks – alternative Versionen und die Aufnahme der einzigen Live-Aufführung des Werks 1965 in Juan-les-Pins – sind eher von akademischem Interesse, allerdings von immensem.)

Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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