Belästigungen 1/2016: Hundert Millionen Kilo neues Fleisch – wohin damit, Deutschland?

Laut Statistik hat die deutsche Bevölkerung in den letzten drei Wochen hundert Millionen Kilo zugenommen. Das ist nichts Neues, tut sie schließlich jedes Jahr, und im Verlauf der folgenden Monate werden davon üblicherweise durch den konzertierten Irrwitz von Superdiäten und Strampeldrill zehn bis dreißig Prozent wieder „wegschmelzen“, ehe zu Weihnachten 2016 erneut hundert Millionen Kilo Fleisch dazukommen.

Das deutsche Volk – wie wir es ausnahmsweise mal nennen wollen, weil der Begriff hier trifft – wird also zweifellos immer gewichtiger. Nun wissen wir seit langer Zeit, daß das eine ganz normale Begleiterscheinung des zu Ende gehenden kapitalistischen Prozesses ist: Jeder stopft sich noch schnell hinein, was nur geht, bevor es irgendein anderer frißt. Sonst kriegt das, was übrig bleibt (und nebenbei schlechtes Wetter verursacht!), am Ende der Afrikaner, und dann hat er außer sonstigen guten Gründen auch noch eine kräftige Konstitution, um nach Europa zu rudern.

Sowieso ist das Gewicht des Deutschen unumstritten; der wird nicht nur (als Mensch und Auto) immer fetter, sondern eben auch – gewichtiger. Weltweit sitzen deutsche Zuwanderer als Manager an den Schalthebeln der Ausbeutungsmaschinerie, ohne jemals irgendwo Asyl beantragt zu haben (von „Kim Dotcom“ vielleicht mal abgesehen, der unbelegten Aussagen zufolge seit Jahren dabei ist, ganz allein hundert Millionen Kilo zuzunehmen, um die neu hinzukommenden Pfunde der Deutschen von Neuseeland aus auszugleichen und somit die Erde im Gleichgewicht zu halten). Die jeweilige Landessprache beherrschen sie höchstens im Ausnahmefall gut genug, um die Putzfrau herumzukommandieren, und notfalls braucht der Deutsche dort, wo er herrscht, nicht mal hinzufahren: Ob in Griechenland, Portugal und Spanien Rentner, Kinder und Kranke hungern beziehungsweise sterben, entscheidet letztlich der deutsche Finanzminister.

Das alles ist ein alter Hut. Weniger diskutiert wird, daß offenbar in Vor- und Frühkriegszeiten (solange die Front noch im Ausland tobt) die kriegführenden Nationen generell zur Gewichtszunahme neigen. Man vergleiche mal die Hungerhaken, die nach dem ersten Weltkrieg an ihrer Weimarer Republik herumschraubten, mit dem deutschen Personal, das ab 1933 auftrumpfte und offenbar mindestens halbtags mit kompensatorischem Schlingen beschäftigt war. Der Führer selbst konnte seine Wampe nach dem ersten Wahlsieg auch nur noch mit schweren Koppelschlössern bändigen. Erst ab Stalingrad schwanden die Pfunde.

Freilich, kein Vergleich mit heute. Es mag indes am Durchschnitt liegen, daß ein nudelnder Dampfkessel wie Sigmar Gabriel immer noch halsabwärts photographiert wird, ohne daß jemand beim Menschenrechtsgerichtshof klagt, damit werde seine Würde verletzt. Oder liegt’s schlicht daran, daß die Front in dem Krieg, den die Bundesrepublik Deutschland seit mehr als fünfzehn Jahren weltweit führt, nicht wirklich näherrückt?

Was ist das überhaupt für ein Krieg, den wir da führen und der über so lange Zeit so brav im Ausland bleibt, während hierzulande die Ministermarionetten und Rüstungsindustriellen anschwellen? Ein etwas seltsamer: Der Gegner nennt sich zwar einen „Staat“, hat aber nicht wirklich ein Territorum, in das man einmarschieren könnte, und immer dann, wenn er irgendwo eine Offensive unternimmt, muß er sich demütigen lassen, er sei gar kein richtiger Kriegsgegner, sondern lediglich ein Terrorist. Gegen den man dann aber wiederum „Krieg“ führt, was ihn zum Kriegsgegner macht, der seinerseits aber keine kriegerischen Akte unternehmen darf, weil das wieder bloß „Terrorismus“ wäre. Verworrene Sache, das Ganze.

Macht aber nichts. Wir haben uns inzwischen so daran gewöhnt, daß wir den Krieg gar nicht mehr richtig wahrnehmen. Ich kann mich noch gut erinnern, wie der damalige Kanzlerkasperl Gerhard „Zwölfzylinder“ Schröder dem entsetzten deutschen Fernsehpublikum im März 1999 mit sorgsam hingeschminkter Sorgenfalte den ersten deutschen Angriffskrieg seit 1945 erklärte. Der ließ sich immerhin plausibel begründen, auch wenn sich hinterher herausstellte, daß die von den Herren Scharping und Fischer dargelegte „Begründung“ von A bis Z erlogen war. Heute ist das schwieriger, aber, wie gesagt, auch relativ egal: Krieg ist schließlich immer, und gegen wen wir gerade kämpfen, interessiert so genau ohnehin niemanden mehr. Wer soll sich das alles denn merken?

Aber warum führt der Mensch und speziell der Deutsche eigentlich so gerne Krieg? Die Antwort kennen wir: Der Kapitalismus erfordert das, weil nichts so viel Profit abwirft wie Vernichtung (mit deutschen Waffen) und anschließender Wiederaufbau (mit deutschem Beton und neuen deutschen Waffen). Wer sich die Feiertage mit ausgiebigem Binge-Watching angesagter TV-Serien vertrieben hat, wird indes den Eindruck nicht los, daß zudem mittlerweile nicht wenige Leute die Erde insgesamt für zu voll halten: In „Utopia“ (zum Beispiel) soll die Menschheit aus „moralischen Gründen“ per Sterilisation dezimiert werden, in „Leftovers“ verschwindet ein Fünfzigstel von selber, und in „Fargo“ versucht man ziemlich starrsinnig, zwei US-Bundesstaaten in Handarbeit komplett leerzuschießen. Sind möglicherweise auch die ständigen Kriege allüberall ein unbewußter Versuch des Homo sapiens, sich selbst zu reduzieren?

Freilich: Wir sind viele, und wir werden immer mehr. Vor allem aber wird, siehe oben, in den Gewinnzonen der kapitalistischen Umverteilung der Einzelne immer mehr. Was tun? Ich weiß, der Vorschlag klingt romantisch, aber wie wär’s damit, die Milliarden von Viechern, aus denen der größte Teil der zusätzlichen hundert Millionen Kilo Menschenfleisch und -fett entstanden ist, einfach am Leben zu lassen, statt dessen zum nächsten Weihnachtsfest einen Apfel zu verspeisen und sich als Sendbote des Weltfriedens zu fühlen?

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin „In München“.

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