Belästigungen 24/2015: Es geht zu Ende, lieber Abfalleimer (gut, daß es dich gibt!)

Seltsam, wie sehr sich der Mensch daran weidet und darin suhlt, daß Sachen zu Ende gehen. Tut er nicht? Tut er doch: Dazu hat er eigens ein Jahr erfunden, das am 31. Dezember ruckzuck und plötzlich aus ist. Es kommt zwar gleich ein neues daher, angeblich, aber das besprechen wir vielleicht demnächst, wenn es so weit ist. Erst einmal: wird das Jahr in ein paar Wochen ruckzuck und plötzlich aus sein, und das treibt den Menschen um.

Und zwar schon Wochen und Monate vorher, weil das Gefühl, daß etwas bald aus ist, unweigerlich dazu zwingt, neue Vorräte zu beschaffen. Zum Beispiel stellt man im späten Hochsommer auf dem Weg zum Baden bei einem kurzen Abstecher in den Supermarkt fest, daß sich dort über Nacht tonnenweise Lebkuchen und rotweiß glänzende Schokoladenfiguren gestapelt haben, und da fällt einem ein, daß man kaum noch Lebkuchen und Schokoladenfiguren zu Hause hat, weil das Zeug vom letzten Jahr schimmel- und mottenbedingt größtenteils entsorgt ist.

Und schon hat man den Wagen voll und wähnt wahrscheinlich unbewußt, daß die Vorräte diesmal aber ganz bestimmt nicht ausgehen werden und deswegen auch das Jahr nicht einfach so zu Ende gehen wird. Weil man sich das Jahr als eine Art Motor vorstellt, der mit Lebkuchen und Schokolade angetrieben wird und spontan zerblippt, wenn der Tank leer ist.

Ebenso bemerkt man, nachdem man aus einer Aufwallung von aufgestautem Überdruß heraus nach Jahren endlich doch die Zeitung abbestellt hat, mit einem Blick auf den schwindenden Reststapel noch zu lesender und langsam vergilbender „Könnte ja doch was drinstehen“-Ausrisse, daß man kaum noch Propaganda im Haus hat. Und da hat man auf einmal ein vakuumöses Sinndefizit: Wo ist die Welt hin? Wer schärft mir zwischendurch mal wieder ein, wieso Putin, Assad und die Chinesen die Bösen und Obama, Erdogan und die Saudis die Guten sind? Gibt es die alle überhaupt noch? Und haben wir überhaupt noch eine Regierung?

Fast ist man versucht, den Fernseher einzuschalten, aber die Befürchtung, das Ding könnte nach einem knappen Jahr Vorruhestand so überfüllt mit nicht abgerufener Einpeitschung sein, daß es ex- statt traditionsgemäß implodiert, bremst den dressierten Finger. In höchster Not begibt man sich an einen Wirtshaustresen und bittet eine Freundin, die in solchen Dingen bewandert ist, um Aktualisierung.

„Freilich“, sagt sie, „eine Regierung gibt es noch. Es ist dieselbe wie seit Jahrzehnten, und momentan ist sie wegen dem Terror wieder etwas gefestigt. Zwar hat bei uns gar kein Terror stattgefunden, außer in den Schlagzeilen, aber das hat keiner bemerkt. Der Putin, ja, der ist immer noch böse. Zwar bombardiert er jetzt den IS, aber das tut er nur, um dem Assad zu helfen, der laut SZ ein Diktator, ein Monster und ein Giftgasmörder ist. Na gut, das mit dem Giftgas war wohl nicht er, sondern seine Gegner, und ein sogenannter Diktator ist der Putin ja auch, ebenso wie gut neunzig Prozent unserer Verbündeten und je nach Definition sogar der Obama. Aber daß er ein Monster ist, weiß man aus gesicherten Quellen.

Dann gibt es noch den Erdogan, der neuerdings über Syrien russische Flugzeuge, die den IS bombardieren, abschießen und die mit dem Fallschirm abgesprungenen Piloten hinrichten läßt. Das ist sein gutes Recht, schließlich hatte das Flugzeug zuvor vier Sekunden lang türkisches Gebiet überflogen und war in diesen vier Sekunden zehnmal per Funk gewarnt worden. Der Erdogan wiederum unterstützt gemeinsam mit Saudis und anderen den IS gegen den Assad und gegen die Kurden, allerdings bezeichnet die saudische Regierung den IS als Terrororganisation, weshalb der Erdogan die NATO drängt, daß sie die Kurden ebenfalls als Terrororganisation bezeichnet, während der Erdogan jetzt angeblich auch gegen den IS kämpfen will. Die Amis kämpfen ein bißchen gegen den IS und ein bißchen gegen seine Gegner, und der IS kämpft im Grunde gegen alle, zum Beispiel in Libyen gegen die von uns eingesetzte Regierung und gegen die Gegenregierung. Momentan wird Syrien von fünfzehn Nationen bombardiert, die irgendwie für beziehungsweise gegen Assad, den IS, die Kurden, die Al-Nusra-Front, die Hisbollah und diverse Söldnertruppen sind, die wiederum alle gegeneinander kämpfen. Es ist ein bißchen kompliziert, fast so kompliziert wie in Afghanistan, Ägypten, Irak … Ach, und in der Ukraine …“

Da winkt man am besten erschöpft ab und fragt mit knapp vor dem Tilt stehendem Resthirn, ob es zu diesem ganzen Durcheinander irgendwo vernünftige Informationen gebe. Freilich gebe es die, sagt die Freundin. Es sei aber mit den Medien heutzutage ein bißchen kompliziert: Wo „Information“ draufstehe, sei hauptsächlich Propaganda drin, wo „Propaganda“ draufstehe, sei vor allem Satire drin, und wo „Satire“ draufstehe, sei überwiegend Information drin. Man müsse also im Grunde neben der Satire auch die gesamte Propaganda kritisch vergleichend studieren, und das sei nicht ganz einfach, vor allem wenn man sich leicht ekle, zumal die einheimische Propaganda neben der des IS am schlimmsten und ekeligsten sei.
Ähm, Tilt.

Und so sind wir irgendwie wieder beim Jahr gelandet, das demnächst plötzlich aus sein wird, und haben jetzt eine ganz andere Vermutung. Die lautet so: Der Mensch hat das Jahr als eine Art Abfalleimer erfunden, in den er mit geradezu manischem Kollektivfuror Sachen hinein häuft, stapelt, schüttet, kippt, rammt und stopft. Wenn das Ding gerade so am Platzen ist und er fürchtet, daß ihm demnächst die ganze Welt um die Ohren fliegt, darf er den Eimer ausleeren und gibt seiner überbordenden Erleichterung darüber mit Böllerschüssen Ausdruck.

Und dann: sitzt er ernüchtert vor dem leeren Kübel und fängt mit ebenso manischem Furor sofort an, ihn wieder zu füllen. Und dieses ganze Wiederholungstheater dient einem einzigen Zweck: dem kurzzeitigen Gedächtnisverlust. Sonst bliebe der letzte, nicht verrottbare Lebkuchen jahrhundertelang als Mahnmal im Schrank, und was die Weltpolitik angeht, gäbe es seit Jahrzehnten nichts mehr, womit man den Abfalleimer füllen könnte (außer mit gelösten Problemen).

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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