Tage, an denen Alben von David Bowie erscheinen, sind für Menschen unserer Generationen lebensgeschichtliche Kerben, die der ersten Zigarette, dem ersten Orgasmus, dem ersten High, der ersten Trennung, der ersten Auslandsreise und der ersten Begegnung mit der großen Liebe mindestens nahekommen. Ich weiß noch, wie ich in den Fernseher gaffte, als „Aladdin Sane“ erschien: als hätte sich eines jener Portale in andere Universen geöffnet, von denen in „Raumschiff Enterprise“ immer nur geraunt wurde.
„Diamond Dogs“ beendete mit einem Faustschlag den Glamrock und das erste wilde Zucken verfrühter Teenagerlust, „Station To Station“ tat dasselbe mit dem Progressive-Kasperltheater. Mit „Low“ bekam New Wave plötzlich Sinn, mit „‚Heroes’“ brach die Verzweiflung der Pubertät mit einer herbstlichen Vulkaneruption über das ganze Leben. „Lodger“ vertonte einen traumverlorenen Sommer zwischen Abschiedsschmerz und diffusen Hoffnungsblitzen, „Scary Monsters“ einen quälend langen, langsam durch Wüsten einsamer Zerrissenheit sich schlängelnden Winter …
Dann: boing, aus. Freilich erschienen weiterhin Bowie-Platten. Jedesmal zuckte das Fieber durch den konditionierten Körper und die abgerichtete Welt; immer hieß es dann: „Na ja, immerhin, es ist Bowie, auch wenn es nicht Bowie ist.“ Das Entsetzen über „Never Let Me Down“, „Outside“ und „Earthling“, die milde Freude über „Hours …“: Eckpunkte und Einschnitte, verbunden mit Bildern, Orten, Menschen, Gefühlen, unwiederholbaren Augenblicken.
Jeder hat ein Idol, auch die, die bei Aussprechung des blanken Wortes zitternd zusammensinken, die Griffel zum Himmel röseln und aussehen wie Kurt Cobain – bei denen ist es dann eben Cobain selber oder notfalls Deleuze. Jeder weiß: Man kann alles tun, bloß um jeden Preis soll man es unterlassen, seinem Idol in vivo zu begegnen, weil dann ist es aus mit der Idolatrie, und zurück bleiben ein desillusionierter Plötzlichinsidolfreielebengeworfener und ein Idol mit einem Anhänger weniger.
Weil ich nichts glaube und nie folge, bin ich extra Musikjournalist geworden, um mein Idol zu treffen. Das reichte aber nicht, denn im Gegensatz zu Angehörigen des Freundeskreises, die sich mit Gestalten der mittleren Heavy-Metal-Liga abgeben, diesen hinterherintercitten und dann erstaunt sind, daß der Blackmore zwar ein Depp, ansonsten aber ganz normal ist, gehört mein Idol jener Schicht an, der sich auch Journalisten nur ganz vorsichtig nähern dürfen, wie Mücken, die eine Gasbogenlampe umschwirren, um bei der dezennialen Audienz zu verglühen.
Aber es geschah. Man lud mich zu Konzert und Pressekonferenz; das hieß: Ich würde zehn Minuten lang mit ihm einen Salon teilen, womöglich eine Frage stellen dürfen, jedenfalls dieselbe Luft atmen. Also fand ich mich eines Wintermorgens auf dem höchsten Balkon eines ehemals chicen Wiener Hotels, blickte in die Ferne und fühlte mich wie Jesus Christus am Gründonnerstag. Warum Wien? Ich weiß es nicht, verzichtete aufs Fragen; verzichtete, um nicht unterwegs zu explodieren, auch aufs wartende Taxi – natürlich weilte das Idol in einem anderen, ehemals noch chiceren Hotel – und ging zu Fuß.
Da sitzen sie alle, die Unwürdigen, für die mein Idol bloß auch so ein Popstar ist. Mir fällt eine Begegnung mit Aushilfs-Idol Pete Townshend ein, der sich als armseliger alter Mann entpuppte und mir 30 Minuten lang sein neues Musical aufschwatzen wollte. Ich erinnere mich an Iggy Pop, einen lustigen, netten Kerl, der mich fragte, ob ich was zum Schnupfen dabei habe. Ich weiß noch, wie ich mit Blondie in einem Hotelzimmer saß. Debbie Harry streckte sich nach einem Hängeschrank, furzte dabei vernehmlich, drehte sich zu mir um und fragte mit einem fiesen Grinsen: „Was that you?“ Ich erinnere mich an Roger Daltrey, Kenny Jones, Marianne Faithfull, Mick Jagger, Brian Molko, John Cale, Elvis Costello, Damon Albarn, Noel Gallagher, Nick Cave, PJ Harvey, Brett Anderson, Evan Dando, an viele andere, lauter lustige, nette Kerle, aber hier geht es nicht um einen Musiker, nicht um einen Popstar, sondern um ein Idol.
Der Recorder läuft bereits, man raschelt, scharrt, kichert, eine Tapetentür öffnet sich, da steht er – und ist praktisch schon wieder weg, denn sofort brechen aus zehn japanischen Mündern in holzigem Stakkato-Englisch Fragen heraus wie “Wot is yur näxt alpum gonna be laik?” und “Wänn will yu finnisch yur Karrir?”, dazu stroboskopartiges Blitzlicht.
Ich zerknülle meinen Zettel, schlurfe zum Konzertsaal. Bade in Erinnerungen. Dann steht der Platten-Boß neben dem Kollegen, flüstert ihm diskret ins Ohr, nicht ahnend, daß ich den mit Vornamen duze, und so darf ich auch zum “Meet and Greet” hinter die Bühne, mich ans Ende der Schlange stellen. Und wieder öffnet sich eine Tapetentür, diesmal werden statt Blitzen Hände geschüttelt, und als ich endlich an der Reihe bin, sage ich mitten in David Bowies Gesicht hinein: “I’ve been waiting 25 years to meet you!” Und er sieht mich an, lächelt breit wie ein Melonenschnitz, sieht aufs Handgelenk (da ist keine Uhr) und sagt: “Sorry, I’m a little late!”
Ich kann mich nicht erinnern, wie ich zurück ins Hotel, ins Flugzeug, nach Hause gekommen bin. Hat sich das gelohnt? Was für eine Frage!
(eine Montage aus zwei Texten, einem für die taz von 2000, einem fürs IN MÜNCHEN von 2013)